Die Familie der Mutter ist jüdisch-ukrainisch, jene des Vaters polnisch-russisch: In Moskau geboren, wuchs Yana Ross in den USA auf. Das schärfte ihren Blick auf Ideologien.

Foto: Lucie Jansch

Gemeinsam mit dem Schweizer Autor Lukas Bärfuss hat sie mit einem offenen Brief die Diskussion über problematische Sponsorings bei den Salzburger Festspielen befeuert: Hier spricht Yana Ross (sie inszenierte die Reigen-Neufassung in Salzburg) ausführlich über russische Geldflüsse und die Frage, welche Rolle bestimmte Stiftungen und Künstler spielen. Bereits 2012 beschloss sie, nicht mehr in Russland zu arbeiten, "um kein staatliches russisches Geld annehmen zu müssen". Inzwischen wurde am Montag bekannt, dass Currentzis ein Orchester namens "Utopia" gegründet hat. An Bord sind 112 Musikerinnen und Musiker aus 28 Ländern. Im Oktober tritt er im Wiener Konzerthaus auf.

STANDARD: Derzeit wird viel darüber diskutiert, wie Russland versucht hat, Kultur im Westen als Türöffner zu benutzen. Wie stellt sich für Sie die Sachlage dar?

Ross: Der Westen wurde seit Jahrzehnten von russischer Propaganda manipuliert, sehr gezielt und mit großer Kenntnis der westlichen Strukturen und Institutionen. Das war ein Akt von Sabotage. Kultur war dabei nur eines der Mittel. Wir müssen uns eingestehen, dass wir getäuscht wurden.

STANDARD: War die künstlerische Öffnung, die sich in Russland noch vor einigen Jahren vollzog, eine Illusion?

Ross: Unter Medwedew gab es eine künstlerische Offensive, enorme Geldsummen flossen in die Kultur. Man erkannte, dass man durch Kultur Leute erreichen konnte, die man ansonsten nicht erreicht. Kultur wurde ein Teil der russischen Propagandamaschinerie. Während in demokratischen Ländern Kultur zivilisatorische Standards propagiert, benutzte Russland Kultur als sogenannte Soft Power für seine Eigeninteressen.

STANDARD: Welche Interessen waren das?

Ross: Wirtschaftliche und politische Interessen. Die vermeintlich liberale Kulturoffensive erzeugte eine Illusion von Freiheit. Kunstschaffende hofften damals wirklich, dass sich im Zuge dieser künstlerischen Renaissance etwas ändern würde. Am Gogol-Zentrum glaubte man unter Direktor Kirill Serebrennikow, dass die Gelder, die aus dem Hahn der Regierung flossen, für etwas Gutes eingesetzt werden könnten. Eine Täuschung.

STANDARD: Die Kunstschaffenden waren naiv?

Ross: Nicht alle. Viele trauten dem Geldregen nicht, denn sie wussten aus Erfahrung, wie das System in Russland funktioniert, was mit Meyerhold passiert ist, was mit anderen Avantgardekünstlern unter Stalin passiert ist. Unter Putin hatte das System eine andere Gestalt angenommen, sich aber nicht grundsätzlich geändert. Als Künstler ist man in einem totalitären Regime ein Werkzeug der Machthaber, dem kann man sich kaum entziehen.

STANDARD: Neben der Regierung unterstützten auch russische Unternehmen und Stiftungen Kunst. Das war und ist kein Regierungsgeld.

Ross: Es gehört zum System, die Grenzen zwischen Regierungs- und Privatinitiativen zu verwischen. In Russland herrscht null Transparenz. Viele Stiftungen sind zu nichts anderem da, als Geld zu waschen, jene des Dirigenten Valery Gergiev ist das beste Beispiel dafür. Aber es gibt noch einige weitere. Die meisten dieser Stiftungen oder Unternehmen sitzen in der Schweiz, vor allem in Zug. Als das Land nach dem Fall der Sowjetunion regelrecht geplündert wurde, wurde viel Geld ins Ausland geschafft. Das passiert bis heute.

STANDARD: Warum hat man das System aus Korruption und Einflussnahme im Westen nicht früher erkannt?

Ross: Der Westen hat von diesen Vorgängen profitiert – und man hat mit einer gewissen Faszination auf Russland geblickt, ein Eldorado, wo ganz eigene Gesetze herrschen, die im Westen unvorstellbar sind. Es war schlichtweg alles möglich, und sei es, dass man mit einem Privatflugzeug von einem Ende Moskaus ans andere fliegt. Die demokratischen Regeln, die es im Westen gibt, um gewissen Formen von Gier Einhalt zu gebieten, gibt es in Russland nicht.

STANDARD: Auch Solway sitzt in Zug. Mit Ihrem offenen Brief über die Natur- und Menschenrechtsverletzungen des Bergbauunternehmens haben Sie eine Diskussion angestoßen. Wie haben Sie die Reaktion der Festspiele erlebt?

Ross: In Salzburg war man sich des Problems mit Solway bewusst. Für Lukas Bärfuss und mich war es allerdings wichtig, dass die offenen Fragen zeitnah vor der Eröffnung der Festspiele gelöst werden. Deswegen gingen wir mit dem offenen Brief an die Öffentlichkeit. Manche Einsichten brauchen Zeit, auch in diesem Fall ist das so. Der Krieg hat erst vor fünf Monaten begonnen. Die Festspiele haben das Sponsoring mit Solway aufgelöst – und man hat klar gesagt, dass der Deal mit Gazprom ein Fehler war. Davor habe ich großen Respekt.

STANDARD: Solway behauptet, kein russisches Unternehmen zu sein, niemand im Vorstand habe die russische Staatsbürgerschaft.

Ross: Das mag auf formaler Ebene durchaus so sein. Viele Unternehmen versuchen derzeit, ihre eigene Geschichte umzuschreiben. Da wird mit Identitäten und nationalen Zugehörigkeiten gespielt. Die entscheidende Frage ist, wie sind diese Firmen entstanden? Viele Unternehmen wurden im Jahr 1991 gegründet, als Russland wie an einem Pokertisch aufgeteilt wurde. Unternehmen, die ihren Sitz in Zug haben, sollte man allgemein mit großer Skepsis betrachten. Schätzungsweise 80 Prozent der russischen Rohstoffe werden über Firmen in Zug gehandelt. Die Schweiz ist für mich leider einer der dunkelsten Orte Europas.

STANDARD: Ein Sponsoring, das nicht beendet wurde, ist jenes durch die VAC-Stiftung des russischen Oligarchen Leonid Michelson. Er steht auf der Sanktionsliste in Großbritannien und Kanada. Sollte man dieses Geld nehmen?

Ross: Michelson ist Teil des korrupten Regimes. Er ist Hauptaktionär von Sibur, dem größten russischen Petrochemie-Unternehmen. Die Festspiele sollten proaktiv handeln und nicht warten, bis auch Österreich Michelson mit Sanktionen belegt.

STANDARD: Für die Festspiele und Österreichs Kulturstaatssekretärin markieren Sanktionen die rote Linie. Macht man es sich zu einfach?

Ross: Die gute Nachricht ist, dass man das System aus Korruption und Einflussnahme mittlerweile erkannt hat. In Österreich hat man realisiert, dass es ein transparenteres Kultursponsoring braucht und Kontrollmechanismen eingezogen werden müssen. Die Richtlinien sind in Ausarbeitung, das ist wichtig. Ich war wirklich überrascht von den Worten des Bundespräsidenten bei der Festspieleröffnung. Ich hätte nie erwartet, dass jemand so deutlich von den eigenen blinden Flecken und Fehlern gegenüber Putins Regime spricht.

STANDARD: Verstehen Sie die Haltung der Festspiele zu Dirigent Teodor Currentzis?

Ross: Ja, das tue ich. Sie resultiert aus dem Umstand, dass man auf russische Künstler als Opfer des Regimes blickt.

STANDARD: Ist Currentzis ein Opfer des russischen Regimes?

Ross: Ich wüsste nicht, wie ein 50-jähriger Doppelstaatsbürger ein Opfer sein sollte. Es war schockierend für mich, vergangene Woche aus der New York Times zu erfahren, dass Currentzis die russische Staatsbürgerschaft direkt durch ein Dekret Putins im Jahr 2014 erhalten hat. Zu dieser Zeit war die Krim bereits annektiert. Das Paradoxon besteht für mich darin, dass Currentzis einerseits Teil eines großartigen Kunstprojekts war, des Filmprojekts Dau von Ilja Chrschanowski. Drei Jahre lang hat man recherchiert, wie totalitäre Systeme Menschen in Objekte verwandeln und jegliche Humanität zerstören. Und wie er andererseits Teil eines ebensolchen Systems wird.

STANDARD: Er würde, sagen seine Verteidiger, mit einer Verurteilung des Krieges die Existenz seiner Musiker riskieren.

Ross: Diese Musiker riskieren ihre Lebensgrundlage, zur selben Zeit füttern sie aber Putins Propagandamaschinerie. In Kriegszeiten muss jeder selbst entscheiden, ob man mit der eigenen Arbeit indirekt den Tod unschuldiger Menschen unterstützt. Es gibt zahlreiche Beispiele prominenter Künstler, die sich – ohne zu zögern – von ihren Leitungsfunktionen zurückgezogen haben, etwa die Theaterdirektoren Mindaugas Karbauskis und Rimas Tuminas. Viele Künstler und Intellektuelle haben ihre Arbeit verloren, aber sie haben ihre Würde behalten. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich dieser Krieg gegen uns alle richtet, gegen unsere demokratischen Werte. Stillschweigen ist eine Waffe, die tötet.

STANDARD: Das ist eine harte Aussage.

Ross: Currentzis hat seine künstlerische Sozialisation in Russland erhalten, das formt die Mentalität. In Russland wurde und wird ihm der rote Teppich ausgebreitet, in keinem anderen Land der Welt wäre dies der Fall. Er hat sich in der Vergangenheit für künstlerische Positionen in Wien und Paris beworben. Er wurde nicht genommen. In Russland muss sich Currentzis keinen Auswahlprozessen unterziehen, in Sankt Petersburg bekommt er alles, was er will. Jetzt ist er Geisel eines Systems, dem er sich selbst ausgeliefert hat. (Stephan Hilpold, 1.8.2022)