Bei ihrer Performance "Modern Chimeras" legt die Gruppe Liquid Loft eine ungewohnte Ernsthaftigkeit an den Tag. Immerhin geht es um Narzissmus und Identität.

Foto: Michael Loizenbauer

Die alten Griechen dachten sich aufregende Ungeheuer aus. Zum Beispiel die Chimaira, zu Deutsch "Geiß", als Mischwesen aus Löwe, Schlange und Ziege. Heute werden mythische Mischwesen, in die auch menschliche Körper involviert sein können – die Sphinx, der Kentaur –, allgemein als Chimären bezeichnet. Im übertragenen Sinn ist eine Chimäre auch ein Trugbild. An Letzteren gibt’s bekanntlich gerade keinen Mangel.

Deswegen ist das neue Stück Modern Chimeras der Wiener Kompanie Liquid Loft unter ihrem Choreografen Chris Haring ein Treffer. In dieser Uraufführung bei Impulstanz feiert das Trugbild als Mischung aus Menschen, Masken, Stoffen und Einbildung sinnlich angehauchte Urständ. In Sachen postmoderner Gestaltwandlung ist die gefragte Tanzgruppe ja schon seit beinahe zwanzig Jahren Chefin.

Luxusprobleme

Währenddessen hat sich das kulturelle Umfeld gewandelt. Dank des Bildungsmediums Internet schaffen Einbildungen Fakten, was eine Hochblüte des Identity-Shoppings miteinschließt. In Modern Chimeras tanzt der gängige Drang, sich zu verwandeln, mit einer für Liquid Loft eher untypischen Ernsthaftigkeit an. Ein halbes Dutzend Tänzerinnen und Tänzer posiert anmutig und souverän in ständigem Fluss und Hüllenwechsel.

Es scheint, als würden hier die Luxusprobleme einer saturierten Gesellschaft, die sich aus Furcht vor der Krisenwirklichkeit in ihrem Körperverpackungsmüll verspreizt, abgefeiert. Dieses Elysium des Narzissmus deutet – als Utopia im Karzer eines Schutzraums – nach außen die Leere einer eingebildeten Befreiung an.

Tanz ist Arbeit

Ganz anders verhält es sich bei den sechs Tanzenden von Alexander Gottfarbs Gruppe Archipelago, die ebenfalls Teil der Wiener Szene ist. Unter dem Titel Encounters #3 wird während dieser dreitägigen Premiere das Feld der Arbeitswelt beackert. Tanz, als Arbeit verstanden, ist ohnehin schon länger Gottfarbs Leib- und Magenthema.

Vor vier Jahren zum Beispiel hat Archipelago in einem Geschäftslokal ganzen Tanz geleistet: ein Jahr lang, und das täglich. Das war harte Routine. Jetzt zieht es die Kompanie hinaus ins Freie an den Wiener Stadtrand – auf einen Bauernhof, wo unser Futter wächst.

Erdnahe Performance

Nicht dass die Anstrengungen von Liquid Loft keine Arbeit wären, aber Chris Haring befasst sich lieber mit den Mühen, die es kostet, als Mensch in Erscheinung zu treten. Gottfarb, die Kompanie und ihre Gäste aus einem Impulstanz-Workshop werden zwar eher nicht bäuerlich werken, aber doch "erdnäher" performen als Liquid Loft.

Mit Modern Chimeras wird ein Elysium vorgeführt, bei den Encounters #3 an das Gegenteil erinnert: eine Welt der Arbeit, die in einer Kultur aus Konsum und Party politisch allzu sehr aus dem Fokus der Öffentlichkeit gerät. (Helmut Ploebst, 1.8.2022)