Es läuft nicht für die ÖVP – ganz und gar nicht. Und wenn sich die Umfragewerte im Sinkflug befinden, bricht in der Volkspartei traditionell eine Debatte darüber aus, ob der richtige Mann an der Parteispitze steht. Nun scheint es wieder so weit zu sein. Aber was ist an den Gerüchten dran, Kanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer könnte abgelöst werden? Ist das ein realistisches Szenario oder bloß Geraune in einer Partei, die von einer Affäre in die nächste schlittert?

Seit die ÖVP in mancher Erhebung sogar hinter die Freiheitlichen auf Platz drei abgerutscht ist, machen jedenfalls immer öfter Gerüchte die Runde, dass selbst hochrangige Parteigranden über einen Obmannwechsel nachdenken würden. Im Mai, am Parteitag, wurde Nehammer noch mit hundert Prozent Zustimmung zum ÖVP-Chef gewählt. Nun soll er längst nicht mehr so fest im Sattel sitzen wie noch vor wenigen Wochen – auch wenn jeder in der ÖVP beteuert, dass er akut gewiss nicht abgesägt werde.

Türkise Affären und viele Krisen: Karl Nehammer hat keine leichte Zeit als Kanzler erwischt. Unter seiner Führung erholt sich die ÖVP seit Wochen auch in den Umfragen nicht mehr.
Foto: Heribert Corn

Bereits am Wochenende berichtete DER STANDARD darüber, dass Nehammer innerparteilich zur Disposition stehen dürfte – und Finanzminister Magnus Brunner ein möglicher Nachfolgekandidat sei. Sonntagnacht zog der Boulevard nach. Auffällig dabei: Österreich veröffentlichte seine Geschichte um 23.42 Uhr, Heute folgte um 23.57 Uhr. Beide Medien berichten über einen internen "Geheimplan" für Nehammers Nachfolge. Brunner selbst erklärt auf Nachfrage des STANDARD: "Karl Nehammer ist ein ausgezeichneter Bundeskanzler und Krisenmanager, ich bin der Finanzminister an seiner Seite." Und: "Ich beteilige mich nicht an jeder künstlichen Sommerlochdebatte. Wir haben als Regierung die Aufgabe, gegen die Folgen der vielfältigen Krise zu kämpfen."

Das nächste Debakel droht

Abseits der mäßigen Umfragewerte machte Nehammer zuletzt bei öffentlichen Auftritten keine besonders gute Figur. Nach diversen flapsigen Äußerungen (Corona "kümmert uns nicht mehr", "Alkohol oder Psychopharmaka") hagelte es Kritik. Auch bei der Bewältigung der Energie- und Teuerungskrise scheint sich nicht abzuzeichnen, dass der Kanzler und sein Koalitionspartner spürbar Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen. Gemeinsam haben ÖVP und Grüne keine Mehrheit mehr im Land.

Das wird in den ÖVP-geführten Bundesländern durchaus mit Sorge betrachtet – vor allem im Hinblick auf die Landtagswahlen in Tirol am 25. September und nächstes Jahr in Niederösterreich, Kärnten und Salzburg. In den Ländern fürchtet man, dass sich die kriselnde Performance der Bundespartei negativ auf das eigene Ergebnis auswirken könnte.

Dass das nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, deutet eine Umfrage an, die kürzlich von der Tiroler Krone bei einem Innsbrucker Marktforschungsinstitut in Auftrag gegeben wurde.

Demnach drohe der ÖVP in Tirol ein Absturz um 15 Prozentpunkte. Damit würde die Partei die 30-Prozent-Marke unterschreiten und ihr schlechtestes Landtagswahlergebnis überhaupt einfahren.

In der ÖVP wird aber auch eine andere Geschichte erzählt: Die Situation der Partei sei nicht einfach, doch Nehammer leiste abseits fragwürdiger Sager stabile Arbeit. "Ich verspüre eher die Stimmung, dass wir uns hinter Nehammer versammeln und das Beste daraus machen, als dass wir einen Wechsel wollen", sagt ein Parteifunktionär, der anonym bleiben möchte. "Personalwechsel als Befreiungsschlag haben die letzten Male ja auch nicht funktioniert."

Bei manchen Grünen steigt ob der brodelnden Gerüchteküche dennoch die Nervosität. Bis vor kurzem hatten grüne Parteistrategen in Hintergrundgesprächen noch deutlich erklärt, dass die Koalition einen neuerlichen Kanzlerwechsel – sollte er drohen – wohl kaum überstehe. Gleichzeitig sehen auch für die Grünen die Umfragen nicht rosig aus – sie liegen derzeit bei rund zehn Prozent. Am Wochenende betonte Klubchefin Sigrid Maurer auf Nachfrage der Nachrichtenagentur APA: "Wir haben jetzt eine stabile Bundesregierung, die große Krisen zu bewältigen hat und die, glaube ich, in den letzten zweieinhalb Jahren auch bewiesen hat, dass sie dem gewachsen ist." Neuwahlen wolle doch niemand abseits der Opposition, hört man momentan häufig aus Regierungskreisen.

Öffentliche Kritik

Medial werden derzeit mehrere Kandidatinnen und Kandidaten für die Kanzlernachfolge diskutiert (siehe unten). Hartnäckig hält sich das Gerücht, Finanzminister Brunner könne irgendwann an Nehammers Stelle treten. Der Rücktritt von Gernot Blümel hatte den Vorarlberger ins Scheinwerferlicht katapultiert: Der zuvor eher blass wirkende Staatssekretär im Umweltministerium wurde plötzlich zu einer zentralen Schaltstelle der Koalition. Für Brunner war das doppelt glücklich: Als Staatssekretär müsste er sich derzeit wohl einige Konflikte mit Ministerin Leonore Gewessler (Grüne) liefern. Als Chef des Finanzressorts kann er hingegen recht frei schalten und walten.

Öffentlich hatte Niederösterreichs mächtige Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) zuletzt mehrfach Kritik an der Regierung – und zwischen den Zeilen auch an Nehammer – geäußert: Es brauche jetzt "Führungsqualitäten", erklärte sie in Richtung Wien. In Niederösterreich stehen Anfang 2023 Wahlen an, bei denen der ÖVP schmerzhafte Verluste vorausgesagt werden.

Bei den Grünen fürchten manche einen Dominoeffekt, sollte mit Tirol die erste Wahl zum schwarzen Desaster werden: "Womöglich kommt es dann zu Kurzschlussreaktionen und Nehammer wird wirklich abgesägt", fürchtet ein Grüner. Andere geben sich gelassener: "Obmanndebatten standen bei der ÖVP früher doch ständig auf der Tagesordnung. Zu der kehren sie jetzt wohl einfach zurück." (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, Fabian Schmid, 2.8.2022)