Nach langem Zittern stach am Montagmorgen letztendlich doch ein ukrainischer Frachter in See. Ob das der Beginn einer dauerhaften Entspannung in der Nahrungsmittelkrise war, wird sich zeigen.

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Es waren bange Tage des Wartens im Hafen von Odessa. Vor allem die komplexe Sicherheitslage im Schwarzen Meer hatte die Umsetzung des Getreideabkommens zwischen der Ukraine, Russland, der Türkei und den Vereinten Nationen, die schon für Freitag oder Samstag angekündigt worden war, stetig verzögert.

Am Montagmorgen verließ schließlich ein erstes Schiff, die Razoni, mit 26.000 Tonnen Mais an Bord Odessa in Richtung Istanbul. Nach einer Inspektion durch das dortige Kontrollzentrum soll es dann weiter nach Tripoli im Libanon gehen. Weitere Schiffe sollen folgen, im Idealfall sollen bis zum Auslaufen des auf 120 Tage datierten Abkommens etwa 25 Millionen Tonnen Getreide verschifft werden.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen kündigte an, selbst ein Schiff zur Ausfuhr von zunächst 30.000 Tonnen Getreide zu chartern. Gleichzeitig gab Präsident Wolodymyr Selenskyj allerdings auf Twitter bekannt, dass die Getreideernte in diesem Jahr kriegsbedingt wohl nur halb so ertragreich sein werde. Die Ukraine wolle zudem weiter nach alternativen Exportmöglichkeiten suchen.

Keine Entspannung in Sicht

Denn Sicherheit und Verlässlichkeit der Exporte über die stark verminte Schwarzmeerroute sind potenziell fragil. Die Ukraine sei "jederzeit auf Provokationen vorbereitet", sagte eine Sprecherin der ukrainischen Armee im Fernsehsender TSN. Dabei nannte sie Russland einen "Terrorstaat" und verwies auf Meldungen über einen Raketenangriff auf die Region Odessa, den Russland laut ukrainischen Angaben von der annektierten Halbinsel Krim aus gestartet haben soll.

Dass mit Entspannung nicht zu rechnen ist, zeigt auch der massive Beschuss der Südukraine am Wochenende, der ein prominentes Opfer forderte: In der Nacht auf Sonntag wurde der Getreideunternehmer Olexij Wadaturskyj durch einen Raketeneinschlag in seinem Wohnhaus in Mykolajiw getötet, wie russische und ukrainische Medien übereinstimmend berichteten. Wadaturskyjs Firma Nibulon ist der größte Getreidehändler der Ukraine, ihr Besitzer selbst war laut der oppositionellen russischen Zeitung Nowaja Gaseta aktiver Unterstützer des Militärs und Träger des Ehrentitels "Held der Ukraine".

Wegen des aktuellen politischen Fokus auf die Getreideindustrie vermuten ukrainische Medien einen gezielten Anschlag. Die russische Staatsjournalistin Margarita Simonjan kommentierte den Tod des Geschäftsmanns ihrerseits auf Telegram mit den Worten, die "Entnazifizierung" der Ukraine sei "in vollem Gange".

Kämpfe wohl bis in den Herbst

Auch auf dem Boden verdichten sich die Anzeichen für ein Fortdauern intensiver Kämpfe bis zum Herbst. Wie der Generalstab der ukrainischen Armee mitteilte, rückt die russische Armee in Richtung der Stadt Bachmut im nördlichen Donbass vor. Laut der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti ist die Zerstreuung der ukrainischen Streitkräfte in der Region eine wichtige Voraussetzung für eine russische Offensive auf die Stadt Kramatorsk, wo sich ein Stabsquartier der ukrainischen Armee befindet, heißt es in einem Sonntag veröffentlichten Dossier.

Gleichzeitig zieht Russland wohl weiter Truppen im Süden zusammen – laut Kiewer Angaben, um dort in Vorbereitung auf die zu erwartende ukrainische Gegenoffensive in der Oblast Cherson Schwachstellen zu beheben.

Stichtag im Herbst

Die Kontrolle über die Region ist für Russland wegen der Versorgungsrouten auf die direkt angrenzende Halbinsel Krim wichtig. Außerdem kommt ihr eine symbolische Bedeutung zu, da Cherson als einziges regionales Zentrum der Ukraine seit Kriegsbeginn erfolgreich von Russland besetzt ist.

Ob Russland in den nächsten Monaten die Einnahme des gesamten Donbass sowie größerer Gebiete im Süden gelingen könnte, bleibt fraglich. "Die russische Armee rückt zwar stetig und langsam nach Westen vor, im letzten Monat gab es aber keine ernsthaften Erfolge", erläuterte der Militäranalyst Jan Matwejew im Interview mit dem russischen Exilsender TV Rain.

Der ukrainische Abgeordnete und Angehörige des parlamentarischen Verteidigungsausschusses, Serhij Rachmanin, erwartet seinerseits, dass Russland bis Herbst möglichst große Gebietsgewinne im Süden wie im Osten anstrebt. Denn am 11. September seien in den besetzten Gebieten Volksabstimmungen über den Anschluss an die Russische Föderation geplant, betonte er im Interview mit RBK Ukraine. Für den Kreml dürfte das ein symbolträchtiger Stichtag sein. (Thomas Fritz Maier, 1.8.2022)