Es ist spät geworden am Vortag. Irgendwann sind wir mit dem Schiff vom Heurigen heimgefahren, haben laut Hip-Hop am Handy gehört und peinlicherweise sogar mitgesungen. Zum Glück waren alle an Bord, die vom letzten Grotti-Transport eingesammelt wurden, einigermaßen betrunken und bester Laune. Die Palmen am Ufer waren noch im Dunkeln zu sehen, die mondänen Häuser leuchteten wie eine Fata Morgana.

Schöner kann man einen warmen August-Abend nicht verbringen: La Dolce Vita a Lugano, dem mediterranen Finanzzentrum der italienischsprachigen Schweiz. Im Kanton Tessin nennt man die Heurigen Grotti, sie servieren auch warme Speisen. Sie liegen auf der Sonnenseite des Luganersees, mit dem Auto sind sie nicht zu erreichen – nur zu Fuß oder eben per Schiff, das wie Bahn, Postbus und Öffis im Swiss Travel Pass, einem All-in-one-Ticket für die ganze Schweiz, inkludiert ist.

Kein Auto nötig

Um in der Schweiz unterwegs zu sein, braucht man tatsächlich kein Auto. Das kleine Land ist bestens erschlossen – und stolz auf sein ausgeklügeltes Zugsystem. Es gibt sogar einen Schokoladenexpress und einen Käsezug. Und der berühmte Glacier Express, der die Snobdestination St. Moritz mit Zermatt (Matterhorn) verbindet, ist nicht nur der langsamste Schnellzug der Welt, sondern mit seinen Panoramafenstern auch ideal, die Schönheit des langsamen Reisens zu entdecken.

Ein Zug überquert auf dem Weg zum Berninapass die Wildwestbrücke.
Foto: Swiss Image / Marco Hoffmann

Für Züge wie den Glacier oder Bernina Express braucht es aber eine Platzreservierung. Kein Wunder, werden die Strecken doch regelmäßig von Experten zu den weltweit schönsten gezählt (auch von Monisha Rajesh, deren neues Buch "Zugvögel" erschienen ist).

"Das Mannsgöggeli zeigt an, wie die Züge aktuell ausgelastet sind", erklärt Danielle Hug vom Swiss Travel System. Wir verstehen nur Bahnhof und müssen uns die kleinen symbolischen Männchen auf der Homepage der Schweizerischen Bundesbahn (SBB) erst zeigen lassen. Wenn sie rot und viele sind, dann besser den nächsten Zug nehmen, der garantiert nicht lange auf sich warten lässt.

Die Pünktlichkeit liegt laut Statistik 2020 bei 92,6 Prozent, die Anschlusspünktlichkeit sogar bei 99,1 Prozent. Auch gutes Umweltgewissen ist beim Schienenverkehr in der Schweiz inkludiert: Die SBB, das größte Bahnunternehmen des Landes, generiert den Strom für die Züge zu 90 Prozent aus Wasserkraft. Bis 2025 soll der Bahnstrom ganz aus erneuerbaren Quellen stammen.

Open-Air-Abteile

Der Kater vom Grotto ist am nächsten Morgen wie weggeblasen im Regionalzug nach Le Prese in Graubünden. Schuld daran sind auch die Open-Air-Abteile, in denen einem der Fahrtwind um die Ohren fegt. Es geht vorbei an malerischen Kapellen, über historische Viadukte, steil bergauf. Kuhglocken läuten, die Wiesen sind saftig, es fühlt sich an wie in einem Heimatfilm, nur in echt. Einmal noch um die Kurve, und dann leuchtet er schon so unwirklich grün, als ob ein Instagram-Filter darüberläge: der Lago di Poschiavo. Wanderer sind am Ufer unterwegs, die Luft ist deutlich kühler, wir befinden uns auf 962 Metern über dem Meer.

Der Bernina Express entlang des Lago di Poschiavo.
Foto: Rhätische Bahn/Andrea Badrutt

Warum keiner im Wasser ist, wird im Hotel Le Prese klar, einem einstigen Kurhotel mit Schwefelquelle, das vor allem britische Gäste angezogen hat und 2014 liebevoll renoviert wurde. Von der Terrasse mit fantastischem Blick über den See führen Steintreppen ins Wasser. Die Temperatur beträgt um die acht Grad, für Winterschwimmer also auch im Sommer ein Paradies. Wer sich überwindet, ist ganz allein im erfrischenden See. Die Aussicht auf die Bernina-Alpen lässt die Kälte sofort vergessen.

Eben erst entdeckt

Das Puschlavtal ist selbst für Schweizer ein Geheimtipp, ein Ort, an dem die Uhren stehen geblieben zu sein scheinen. Man kommt sofort zur Ruhe und staunt, dass es solche touristischen Rohdiamanten noch gibt. "Wir haben sehr von Corona profitiert", sagt Kaspar Howald, Direktor von Valposchiavo Turismo.

Als es nicht möglich war, ins Ausland zu reisen, wurde diese verschlafene Ecke der Schweiz verstärkt von den Einheimischen entdeckt. "Eigentlich brauchen wir gar nicht mehr Touristen", sagt Howald. Es gibt nur an die 60 Betten im ganzen Tal. Überlaufen wird es hier zum Glück nicht so schnell werden.

Hinter dem Hotel wachsen wilde Kräuter, Kornblumen, Frauenmantel, Salbei und Goldrute blühen. Reto Raselli zeigt uns seine Felder, er gehört zu den Bio-Pionieren im Tal. Früher wurde er belächelt, in dieser kargen Gegend Kräuter anpflanzen zu wollen. Heute gilt er in seiner Heimat als der "Kräuterkönig aus dem Puschlav".

Er baut Tee an, den er unter eigenem Label verkauft, aber er liefert auch Kräuter für die berühmten Ricola-Zuckerln. Raselli, der mit seinem Rauschebart selbst wie aus einer Ricola-Werbung aussieht, ist in bester Gesellschaft: 94 Prozent der Landwirtschaften sind in diesem Tal biologisch. Ohne Ricola würde es ihn gar nicht geben, erzählt er, die Firma habe ihm fünfmal so viel bezahlt, wie auf dem Weltmarkt üblich gewesen sei. Regionalität hat eben seinen Preis.

Ein Dorf wie eine Festung

Die Rhaetische Bahn durchquert die Rheinschlucht im Kanton Graubünden.
Foto: Swiss Image / Tibert Keller

Mit dem Bummelzug geht es in zehn Minuten nach Poschiavo – ein Ort mit dreieinhalbtausend Einwohnern. In den schmalen Gassen atmet alles unaufdringlich Geschichte. Im Hintergrund thront das mächtige Bernina-Gebirgsmassiv, der höchste Gipfel erreicht mehr als 4.000 Meter, an manchen Stellen wirkt das Dorf wie eine Festung, um dann doch wieder mit italienischem Flair zu überraschen.

Poschiavo ist eine Gartenstadt. Im 19. Jahrhundert wanderten viele Einwohner aus, wurden als Zuckerbäcker und Hoteliers in Spanien, England oder Russland reich. Sie kehrten heim und errichteten Herrschaftshäuser, die wie kleine Paläste aussehen. Heute sind die meisten in Privatbesitz, dreht man am späten Nachmittag eine Runde im Dorf, dann sieht man alle mit Gießkannen durch ihre blühenden Gärten gehen, auf die sie mächtig stolz sind. Im Sommer finden in vielen davon auch öffentliche Konzerte statt.

Hinauf ins Gebirge

Kurz nach 18 Uhr geht es weiter hinauf ins Gebirge. Die Sonne scheint zwar noch, aber der Tourismuschef warnt uns im Scherz: "Setzt euch besser nicht in den Lungenentzündungsexpress." In den offenen Wagons kann es schnell kalt werden, sobald die Landschaft karg wird. Es geht vorbei an schroffen Felsen, bis der Zug vor einem Bahnhofsgebäude haltmacht, das wie aus einem Wes-Anderson-Film aussieht. Alp Grüm steht da in roten, großen Lettern. Kaum jemand steigt aus. Kann man hier wirklich übernachten? Auf den ersten Blick wirkt alles wie ein Bahnhofsbuffet.

Der Bernina Express beim Bahnhof Alp Grüm.
Foto: Switzerland Tourism/Andre Meier

Neun Doppel- und ein Einzelzimmer gibt es auf 2.091 Metern, schick minimalistisch nordisch eingerichtet, einige mit spektakulärem Blick auf den Gletscher Vadret da Palü und den türkisfarbenen Palüsee. Abends sind die Wanderer und Tagesausflügler weg, es kehrt eine idyllische Ruhe ein. Man fühlt sich wie am Ende der Welt, genießt die Abgeschiedenheit und einen Sonnenuntergang mit Blick hinunter ins Tal zum See. Ein eisiger Wind weht einem um die Ohren, drei Grad hat es in der Nacht, und die Sterne leuchten unfassbar hell.

Das Zeitgefühl verlieren

Im kleinen, gemütlichen Restaurant werden Engadiner und Puschlaver Spezialitäten wie Buchweizennudeln mit Wirsing, Kartoffeln, Käse und Salbeibutter aufgetischt. Pizzoccheri nach Art des Hauses heißt das Gericht, das müde Wanderer garantiert wieder ins Leben zurückholt. Aber auch das klassische Fondue ist sehr zu empfehlen. Es ist in der Schweiz üblich, dass gefragt wird, ob man ein Supplement möchte, also einen Nachschlag, der meist sogar gratis ist.

Wie alle da auf Alp Grüm gemütlich zusammensitzen, essen und trinken, während der Wind ums exponierte Bahnhofsgebäude weht, lässt einen jegliches Zeitgefühl verlieren. Es könnte auch Weihnachten sein, nur der Schnee fehlt. Kaum zu glauben, dass wir am Morgen in einer Stadt mit Palmen aufgewacht sind. Drei Klimazonen an nur einem Tag: Die Züge der Schweiz machen es möglich. Und der Kater vom Vortag ist längst Geschichte. (Karin Cerny, RONDO, 8.8.2022)