Nach einer mehr als 1.000 Kilometer langen Fahrt tuckert der Zug über den elf Kilometer langen Hindenburgdamm auf die nördlichste Insel Deutschlands: Sylt. Ankunft am Bahnhof Westerland. Endstation Nordsee. Wen es hierher zieht, den treibt vermutlich die Sehnsucht nach dem Meer an.

Bis vor kurzem konnten Reisende das blau schimmernde Naturgemälde aus Himmel und Ozean noch mit dem vielgelobten Alpen-Sylt-Nachtexpress direkt von Salzburg aus ansteuern. Urlaub am Meer, und das bei klimaschonender Anreise mit dem Nachtzug, so die Verheißung.

Eine Verheißung: mit dem Nachtzug ans Meer nach Sylt.
Foto: RDC Deutschland

Doch nur zwei Jahre nach der Jungfernfahrt ist vorerst wieder Schluss. Lieferkettenprobleme und rasant gestiegene Strompreise machen den Betrieb unwirtschaftlich. Nichtsdestotrotz: Wer den Nachtzug nach Hamburg nimmt und dann einen regulären Anschluss nach Sylt, braucht nicht viel länger.

Insel der Wohlhabenden

Das Verlangen, am Rande der Brandung zu stehen und in die Weite zu blicken, lässt sich nach der Ankunft in Westerland schon nach zehn flotten Gehminuten stillen. Am Ende der Fußgängerzone, in der sich dank Neun-Euro-Ticket ein paar Punks angesiedelt haben, rauscht und tobt die Nordsee wie ein Empfangskomitee. Und obwohl die nordfriesische Insel im Hochsommer von den vielen Urlaubsgästen ziemlich herausgefordert ist: Am knapp 40 Kilometer langen Strand der Westküste ist genug Platz – für 12.000 blau-weiß gestreifte Strandkörbe, die verlässlichen Schutz gegen Wind und Sonne bieten. Tagesgebühr: 15 Euro.

Vom Hindenburgdamm, der Sylt mit dem Festland verbindet, erhascht man einen ersten Blick auf das Wattenmeer.
Foto: Maria Kapeller

Was die einen extra für den Urlaub ansparen, ist für die anderen Trinkgeld. Sylt hat zu Recht den Ruf, die Insel der Wohlhabenden zu sein. Zu sehen ist das etwa an den mit Reet gedeckten, millionenschweren Zweitwohnsitzhäusern im friesischen Stil. Oder an den Luxuswagen, die über die Inselstraßen brausen – Porsche bietet vor Ort ein exklusives Verleihangebot.

Naturschutz

Aber es gibt auch ein anderes Sylt, das Sylt der Campingfans, der Jugendherbergsgäste – die einfachen Unterkünfte punkten mit Bestlagen in den Dünen – und das Sylt der ganz normalen Urlauberinnen und Urlauber. Sylt ist vor allem auch die Insel all jener, die hier ganzjährig leben. Sie arbeiten als Tourguides, im Kindergarten, stutzen in noblen Gärten die Hecken oder servieren in den Bäckereien Kaffee und Friesentorte – und ächzen nicht selten unter den hohen Immobilienpreisen.

Was Sylt noch ist: Die Insel der Naturbewahrerinnen und Naturbewahrer. Das 38 Kilometer lange und bis zu zwölf Kilometer breite Eiland ist reich an Tier- und Pflanzenarten. Gut die Hälfte der Insel steht unter Schutz, westlich von Sylt befindet sich ein Walschutzgebiet für Schweinswale.

12.000 Strandkörbe stehen auf Sylt bereit für Sonnenhungrige, die sich vor dem Wind schützen wollen.
Foto: Getty Images / iStock

Mehrere Naturschutzvereine sowie Forschende und junge Freiwillige beschäftigen sich mit den Ökosystemen der Insel, von der Heidelandschaft bis zum Wattenmeer. Trotzdem hat Sylt eine ungewisse Zukunft. Wind, Wasser und Sturmfluten reißen an den Sanddünen, die das Landesinnere umgeben. Sie sind mit Strandhafer bepflanzt, der tief wurzelt und die Sandmassen zusammenhält. Millionen teure Sandaufspülungen sollen die Küste vor dem Schrumpfen bewahren. Dabei holen Schiffe Sand vom Meeresboden und pumpen ihn über Spülrohre an den Strand.

Wanderung im Watt

Während die Nordsee an der Westküste wild und unbändig ist, präsentiert sie sich an der Ostküste sanft und ruhig. Jan Krüger, Kapuzenpulli und Sonnenbrille, hat seine Jeans bis zu den Knien hochgekrempelt. Der zertifizierte Nationalpark-Wattführer schreitet barfuß und mit einer Heugabel in der Hand über den Meeresboden.

Mal hebt er eine Wellhornschecke auf, mal zeigt er auf die winzigen Strandschnecken. Immer wieder sticht er in den Sand, um Wattwürmer, Strandkrabben oder Muscheln hervorzuholen. Gerade hält er eine Herzmuschel in der Hand. Sie lebt im Boden vergraben, das bewahrt sie vor den Schnäbeln von Vögeln wie dem Austernfischer.

Solche Strandkrabben findet man, wenn man im Sand wühlt.
Foto: imago images/localpic

"Um an frisches Atemwasser und Nahrung in Form von Plankton zu kommen, hat die Herzmuschel einen langen Schnorchel, der bis an die Wattoberfläche reicht", erklärt der Guide. "Damit pumpt sie ständig frisches Wasser durch sich hindurch, rund zwei Liter pro Stunde." Einmal in der Woche, heißt es, filtrieren alle Muschelarten gemeinsam das gesamte Wasser des Wattenmeeres.

Weitläufiger Küstenstreifen

Der weitläufige Küstenstreifen, der sich über 500 Kilometer von Dänemark über Deutschland bis zu den Niederlanden zieht, ist Unesco-Weltnaturerbe. Auf einem Quadratmeter Wattboden leben Millionen von kleinen Meerestieren und Algen. Nordseefische kommen zum Laichen, Zugvögel machen hier Rast.

Am Ende der Wattwanderung tapsen die Teilnehmenden barfuß auf schmalen Sandpfaden durch grün schimmernde Salzwiesen. Dort gedeihen unter anderem Meeresspargel, Meeresspinat und die Salzmiere. "Die Pflanzen hier werden rund 60-mal im Jahr vollständig überflutet und von Salzwasser umspült", sagt der Wattführer, "sie müssen mit dem hohen Salzgehalt klarkommen."

Sauberkeit

Klarkommen müssen auch die Sylter, etwa mit den Abfallmengen auf den Stränden. Die bekommen Touristinnen und Touristen selten zu Gesicht. Denn frühmorgens, bevor die ersten Strandkörbe besetzt sind, werden die Hauptstrände von Plastikflaschen, Zigarettenstummeln und anderem Müll befreit.

Lister Ellenbogen auf Sylt: Am nördlichsten Punkt Deutschlands drehen sich farbenfrohe Kite-Schirme im Wind, Schafe grasen, Seehunde rasten; ein weiß-roter Leuchtturm zwischen Dünengras komplettiert das Postkartenmotiv.
Foto: imago images/localpic

Man bemüht sich, die Insel sauber zu halten: Mittlerweile sind große Recyclingcontainer aufgestellt, es gibt eine Initiative gegen Plastikmüll und diverse Strandsäuberungsaktionen.

To-go-Becher werden als Mehrwegbecher angeboten, und Reisenden wird empfohlen, statt importierten Mineralwassers inseleigenes Leitungswasser zu trinken. Ein Dauerthema ist auch die enorme Autolast, wegen der schon mal eine lokal organisierte Fahrrad-Demo einen Kreisverkehr blockiert.

Mit dem Rad durch die Heide

Wer mit dem Zug anreist und die Insel mit dem Rad erkundet, bekommt von diesen täglichen Balanceakten auf den Straßen nur wenig mit. Nur: Recht voll kann es auch auf den Radwegen werden.

Ein landschaftlicher Höhepunkt ist die Fahrradtour durch Heidelandschaften und vorbei an einem Meer aus dunkelrosa blühenden Sylter Rosen zum Lister Ellenbogen. Am nördlichsten Punkt Deutschlands drehen sich farbenfrohe Kite-Schirme im Wind, Schafe grasen, Seehunde rasten; ein weiß-roter Leuchtturm zwischen Dünengras komplettiert das Postkartenmotiv.

Es braucht eine Weile, um die gesammelten Eindrücke sickern zu lassen und sich langsam wieder von Meeresbrise und Inselleben zu verabschieden. Auf der Zugfahrt zurück nach Österreich, dorthin, wo sich vor 100 Millionen Jahren aus dem Ur-Ozean die Alpen aufgefaltet haben, ist dafür genügend Zeit. (Maria Kapeller, RONDO, 5.8.2022)