Roelle (Jan Bülow) wird von der Gymnasiastenmeute (Tilman Tuppy und Lukas Vogelsang) mit Waterboarding gequält.

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Die Bühne auf der Halleiner Perner-Insel ist ein Archipel aus unregelmäßig ausgelegten Gummimatten im seichten Wasser. Aber das trügt. Immer wieder gibt es tiefe Stellen, die einen Menschen für mehrere Sekunden ganz verschlingen können. Stellen, in die alkoholisierte Männerhorden diejenigen, die sie zum Opfer erkoren haben, kopfüber hineintauchen. Hier, an den Ufern der Donau in der bayrischen Provinz, wo Liebe allenfalls als Flaschenpost aus der Zukunft angeschwemmt wird, ist der Mensch dem Menschen nicht Wolf, sondern Hyäne. Er tötet noch nicht kalt, sondern wartet darauf, ob ihm das Verenden des Nächsten nicht doch noch zum Vorteil gereicht.

Im fahlen Licht des Anfangsbildes ragen Masten mit Megafonlautsprechern in den leeren Himmel. Was sie auch immer verkünden, es wird unheilvoll sein (Bühne und Licht: Jan Versweyveld). Ingolstadt ist in Ingolstadt (Regie: Ivo van Hove) längst schon Lager eines kommenden Faschismus. Es merkt nur keiner, wo doch bunte Lichterketten zwischen die Masten gespannt sind wie beim Kirtag oder im Biergarten.

Leben in der Provinz

Fegefeuer in Ingolstadt (1926) und Pioniere in Ingolstadt (1929), zwei Stücke der jungen Marieluise Fleißer (1901–1974), ringen der Formlosigkeit des Lebens in der Provinz eine Form ab – in ihrer eigentümlich filigranen und noch vom Schwung des Expressionismus mitgerissenen Sprache. Fleißer hat einen feinen Sinn für die Atmosphären und Zwischentöne des falschen Lebens, ohne ihnen im Milieu schwelgend zu sehr zu folgen. Die Distanzierung des Schreibens ist für sie existenznotwendig im Kampf mit dem inneren wie äußeren Ingolstadt. Hier hat sie einen Großteil ihres Lebens verbracht.

Fleißers Fegefeuer ist ausschließlich etwas von dieser Welt, eine Mixtur aus autoritärer Kleinfamilie, reaktionärem Katholizismus und mal latenter, mal gewaltförmiger Frauenfeindlichkeit. Olga (Marie-Luise Stockinger), eine Gymnasiastin, ist schwanger von Peps (Tilman Tuppy), dem gegelten Jungmacho in der Lederjacke, will abtreiben, findet aber keine Möglichkeit. Roelle (Jan Bülow), der Wasser scheut und den seine Neurodiversität gelegentlich Engel sehen lässt, denunziert Olga, versucht ihr nachzustellen und beklaut seine Mutter für eine vermeintlich gemeinsame Zukunft, bis die Gymnasiastenmeute ihn einer Art Waterboarding unterzieht. Fegefeuer in Ingolstadt entwickelt ein auswegloses Wechselspiel der Kränkungen. Niemand ist nur Opfer.

"Girls wanna have fun"

Pioniere in Ingolstadt will Fleißer als Lustspiel verstanden wissen. Ein Trupp von Pionieren kommt in die Stadt, um eine Brücke zu bauen, und entspricht – dick, dumm, wasserdicht – genau dem, was das antimilitaristische Sentiment in ihnen sehen will. Die Fräulein im Faltenrock winken denen, die da kommen. Außer Abwechslung suchen sie Liebe wie Berta (Lilith Häßle) oder die Aufbesserung des Taschengelds wie die arbeitslose Alma (Dagna Litzenberger-Vinet). "Girls wanna have fun", aber die Verhältnisse, die sind nicht so. Baumaterial wird geklaut, der verhasste Feldwebel (Ernest Allan Hausmann) geht bei einer stürmischen Bootsfahrt ganz zufällig über Bord. Gesoffen wird, geprügelt, Frauen werden gekränkt, eine wird vergewaltigt. Man sieht die Gemütlichkeit des nahenden Faschismus.

Heute wissen wir mehr. Ob wir klüger sind, wird sich erst noch herausstellen. Allerdings nicht im Theater, denn da sieht man immer nur den Faschismus der Vergangenheit. Fleißer registriert historische Tatsachen, nicht aber ihren zwingenden Charakter, dass alles so kommen muss, wie es dann kam. Das rückt sie in die Nähe einer weiteren literarischen Figur, die mit dem frühen Erfolg beider Stücke etwas zu tun hat: Der junge Bertolt Brecht beförderte die Berliner Premieren beider Stücke und griff im Sinne seiner theatralischen Sendung kräftig darin ein, zum Leidwesen der Autorin. Toxisches auch sonst. Fleißer hörte zeitweilig zu schreiben auf, überwinterte die Nazizeit als Trafikantin in Ingolstadt. Als sie wieder zu schreiben begann, war der Trafikant tot und Brecht auch. Wann wird man endlich Künstlerinnenbiografien ohne Blick auf ihre Männer verfassen können?

Hinter den Erwartungen

Koen Tachelet legt in der Spielfassung der Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Wiener Burgtheater beide Stücke zu Ingolstadt zusammen. Über offenkundige atmosphärische Entsprechungen hinaus bleibt das hinter den Erwartungen. Fegefeuer ist fast ein feingegliederter Reigen der Bosheiten, Pioniere zeichnet holzschnittartig die Provinzposse mit brutalem Ausgang. Die Form beider Stücke löst sich auf in einer Art Filmschnitt, der sich gelegentlich plagt, inhaltlich alles "rüberzubringen". Erzählt wird, wo distanzierend zu zeigen wäre.

Ein Ensemble wunderbarer junger Schauspielerinnen und Schauspieler spielt sich den Wolf mit expressiver Menschendarstellung. Fleißers Figuren aber sind keine Menschen, sie sind Chimären einer schlechten Wirklichkeit, denen das eingeschrieben ist, was sie am Menschsein hindert. Eine Prise Brecht hätte geholfen. Zwei hundert Jahre alte Texte lassen das Theater von heute manchmal alt aussehen. (Uwe Mattheiß, 2.8.2022)