Was das klassische Wiener Kaffeehaus auszeichnet, das ist schwer zu sagen. Der schlechte Kaffee sei es, meinen die einen. Die grantigen Ober, die anderen. Wobei es sich bei Ersteren häufig um die traditionell raunzigen Wienerinnen und Wiener selbst handelt und bei Letzteren um Touristinnen und Touristen.

Ein weniger plakatives Charakteristikum verdeutlichte die Aufregung um die Schließung des Café Westend in der Mariahilfer Straße vor wenigen Wochen: Kaum eine Gastro-Gattung ist so viel mit Emotion verbunden. Das Wiener Kaffeehaus, das ist vor allem ein Gefühl. Ein Gefühl, das man in der Bundeshauptstadt offenbar nicht missen möchte: Entsprechend laut waren die Rufe nach einer Rettung des Westend, groß die Angst, dass die Schließung Ausdruck des vielbeschworenen Kaffeehaussterbens sei.

Ob die Rettung des Westend gelingt, werden laufende Verhandlungen zeigen.
Foto: Oliver Das Gupta

Doch vom Reich der Emotionen zurück in die Welt der Fakten: Was macht das Wiener Kaffeehaus zur Institution – und wie ist es um sie bestellt? Droht sie tatsächlich zu verschwinden?

Vorweg sei festgehalten: Ganz ohne Gefühl lassen sich diese Fragen – passend zu ihrem Gegenstand – nicht beantworten. Und das liegt an der schwierigen Definition des klassischen Wiener Kaffeehauses. Eine allgemeingültige Festlegung, was darunter zu verstehen ist, gibt es nicht – und das macht die Einschätzung ein bisschen zum Kaffeesudlesen. Die Wirtschaftskammer unterscheidet in ihren Branchendaten für die Gastronomie zwischen Kaffeerestaurants, Kaffeekonditoreien, Espressobetrieben und Kaffeehäusern. Von Letzteren zählte Wien im vergangenen Jahr 820. Das waren um 14 weniger als zehn Jahre davor. All diese Kaffeehäuser beschäftigten mehr als 8.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – davon 4.300 Männer und 4.400 Frauen. Gearbeitet haben sie überwiegend in kleinen Betrieben: Im Vorjahr waren satte 84 Prozent der Kaffeehäuser in der Bundeshauptstadt überschaubare Lokale mit maximal neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

48 Traditionsträger

So viel die Statistik über Kaffeehäuser in Wien erzählt, so wenig tut sie das über Wiener Kaffeehäuser: Daten zu deren Anzahl im Lauf der Jahre, zur Personal- und Umsatzentwicklung fehlen. Einen Anhaltspunkt liefert Wolfgang Binder, Inhaber des Café Frauenhuber im ersten Bezirk und Chef der Fachgruppe Kaffeehäuser in Wiens Wirtschaftskammer: Er schätzt die Zahl der Traditionscafés auf in den vergangenen Jahren konstante 50. "Das sind großteils Familienbetriebe, die von Generation zu Generation weitergegeben werden", sagt Binder im STANDARD-Gespräch.

Das Ritter in Ottakring stand pandemiebedingt vor dem Aus, dank Unterstützung durch die Stadt gibt es dort wieder Kaffee und Strudel und Musik.
Foto: Heribert Corn

Glaubt man seinem Gefühl, besteht also wenig Anlass zur Sorge. Die Zahl kommt daher, dass sich vor mehreren Jahren die Inhaberinnen und Inhaber von 48 Wiener Kaffeehäusern – darunter auch das Café Westend – zusammengeschlossen haben, um die Wiener Kaffeehauskultur bei der Unesco als immaterielles Kulturerbe zu etablieren. Das Ziel war eine gewisse Sichtbarmachung. Denn der praktische Nutzen dieser Auszeichnung ist sehr beschränkt – siehe Westend. Auch das an der Initiative beteiligte Café Ritter im 16. Bezirk geriet vor nicht allzu langer Zeit in finanzielle Schieflage, konnte aber gerettet werden. Das Café Hofburg hat hingegen zugesperrt. Beim Westend laufen derzeit Verhandlungen mit der Stadt.

Krisenerprobte Branche

Der Vorstoß ging jedenfalls auf, 2011 erfolgte die Erklärung zum immateriellen Kulturerbe. Die 48 Betriebe gelten seither als Träger der Wiener Kaffeehauskultur. Deren Beschreibung bei der Unesco gibt auch Aufschluss über die Aufmachung der Lokale. Charakteristisch sind demnach Marmortische, gepolsterte Sitzgelegenheiten und Logen sowie Thonetstühle. Weiters prägend: Zeitungstische und eine Innenausstattung im Stil des Historismus.

Zusätzliche tradierte Merkmale sind das Glas Wasser zum Kaffee, Musikbegleitung und der Anspruch einer gewissen Entspanntheit: "Kaffeehäuser sind ein Ort, in dem Raum und Zeit konsumiert werden, aber nur der Kaffee auf der Rechnung steht." Oder, wie es Kaffeesieder-Obmann Binder ausdrückt: "Das Kaffeehaus ist das Wohnzimmer des Wieners." Man ahnt: In der heutigen, immer schnelllebigeren Zeit kann dies ein durchaus herausforderndes Konzept sein.

Während der Pandemie wurde das Frauenhuber zum Lern-Café.
Foto: Matthias Cremer

Zu diesem Wandel sind in den vergangenen zwei Jahren für die Wiener Kaffeehäuser weitere Herausforderungen gekommen: Corona und die damit verbundenen Schließzeiten sowie Personalmangel und die gegenwärtige Teuerung infolge des Ukraine-Kriegs. "Wir dachten, die Pandemie wird schwierig, aber jetzt wird es ungleich schwieriger", sagt Binder. Der finanzielle Polster der Betriebe sei in den Lockdowns angeknabbert worden, nun kämen enorme Mehrkosten auf die Kaffeehäuser zu. "Bei mir sind es alleine 50.000 Euro mehr an Energiekosten im kommenden Jahr. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als mit den Preisen hinaufzugehen."

Im Prückel funktioniert das Konzept "Wohnzimmer", wie sich das für ein Wiener Kaffeehaus gehört.
Foto: Herbert Neubauer

Die Frage sei allerdings, wie lange sich die Wienerinnen und Wiener ihr "Wohnzimmer" unter diesen Voraussetzungen noch leisten wollen – oder können. Cafetier Binder hofft, bei den Gästen mit offener Kommunikation Verständnis zu erhalten. Sein Café Frauenhuber lebt, wie die anderen Traditionskaffeehäuser, von Stammkundschaft. Um Gäste zu regelmäßigen Besuchern zu machen, würden einem nicht viele Gelegenheiten bleiben: "Der Wiener schreit sofort und gibt nicht viele Chancen, etwas auszubessern", sagt Binder. Wobei eine gewisse Lust am Nörgeln eben dazugehöre: "Der Wiener ist ein Raunzer." Dass er sein Mantra von den 50 Wiener Kaffeehäusern in Zukunft nicht mehr wird wiederholen können, glaubt Binder nicht. "Uns gibt es seit mehr als 300 Jahren, wir haben schon viele Krisen durchgemacht." Das Gefühl, es stimmt also. (Stefanie Rachbauer, 3.8.2022)