Im vergangenen April bekamen Einwohner der Umgebung von Ugu an der Westküste der japanischen Insel Honshū die einzigartige Gelegenheit, eines der mysteriösesten Tiefseewesen der Erde mit eigenen Augen zu sehen: Ein zumindest anfangs noch lebender Riesenkalmar (Architeuthis dux) war an Land getrieben worden. Größenmäßig rangierte das Tier mit einer Gesamtlänge von 3,35 Metern am unteren Rand der bisher beobachteten Exemplare. Verbürgte Messungen legen eine maximale Größenordnung von zehn bis zwölf Metern nahe, inklusive der Fangarme.

Ein Riesenkalmar in seinem natürlichen Lebensraum. Der Videozusammenschnitt zeigt auch ältere Aufnahmen des großen Tiefseetintenfischs.
ScienceAlert

Seltene Begegnungen

Tot oder sterbend angeschwemmte Riesenkalmare sind eine sehr große Rarität, kaum mehr als tausend Individuen konnten bisher nachgewiesen werden. Um die Wende des 21. Jahrhunderts war der Riesenkalmar eines der wenigen Mitglieder der Megafauna, die noch nie lebend fotografiert wurden. Dieses "Jahrhundertfoto" gelang schließlich am 15. Jänner 2002 an der Küste von Goshiki in der japanischen Präfektur Kyoto. Die Aufnahme zeigt ein großes Exemplar nahe der Wasseroberfläche.

Wie oft Architeuthis dux in seinem natürlichen Lebensraum beobachtet wurde, lässt sich an nur einer Hand abzählen. Die ersten Videoaufnahmen gelangen Ende 2006 vor den japanischen Ogasawara-Inseln in mehreren Hundert Metern Tiefe. Das Tier griff damals einen Köder an und gab dabei Lichtimpulse ab. Ob es sich wirklich um einen Riesenkalmar gehandelt hat, ist aber nicht zweifelsfrei erwiesen.

Videos aus der Tiefsee

Im Jahr 2019 glückten erneut Videoaufnahmen aus der Tiefsee. Diesmal waren sich die Forschenden deutlich sicherer, dass es sich tatsächlich um Architeuthis dux gehandelt hatte. Das Exemplar kam auf eine Mantellänge (also ohne Tentakel) von mindesten 1,7 Metern. Eine regelrechte Sensation stellen freilich die aktuellsten Videobilder dar, auf denen der Riesenkalmar auf Beutejagd in seiner natürlichen Umgebung zu sehen ist.

Im April wurde an der Westküste der japanischen Insel Honshū ein lebender Riesenkalmar an Land geschwemmt.
Screenshot: Nippon TV

Aus diesen Bildern vom Vorjahr lasse sich zum ersten Mal nachvollziehen, wie der Riesenkalmar seinen Opfern nachstellt und sie angreift, zeigten sich Forschende um Nathan Robinson von der Oceanogràfic Foundation in Spanien begeistert. Gelungen ist dieses schwierige Unterfangen mithilfe ausgeklügelter Unterwassertechnik.

Plattform mit blinkender Qualle

Eigentlich empfinden die Riesenkalmare mit ihren riesigen Augen die grellen Lampen von Tauchrobotern als unangenehm. Auch Geräusche und Vibrationen schrecken die Tintenfische ab. Daher haben Robinson und sein Team eine andere Lösung entwickelt: Sie konstruierten eine Tiefseeplattform ohne eigenen Antrieb, die mit Kameras ausgestattet ist. Da die Augen von Riesenkalmaren vor allem dafür optimiert sind, kurzwelliges blaues Licht zu sehen, setzten die Forschenden langwelliges Rotlicht ein, das die Tiere weniger stört.

Als Köder für die Tentakelwesen verwendeten die Wissenschafter künstliche Quallen. Diese "E-Jellys" sind mit Lichtern ausgestattet, die die blau blinkende Biolumineszenz einer Atolla-Qualle (Atolla wyvillei) nachahmen, die in Schwierigkeiten geraten ist. Obwohl Riesenkalmare nicht dafür bekannt sind, dass Quallen auf ihrem Speiseplan stehen, könnten sie trotzdem von dem Alarmblinken angelockt werden – immerhin könnte es ja bedeuten, dass die Qualle gerade von einem Tier angegriffen wird, das für den Kalmar einen schmackhaften und lohnenden Happen darstellt.

Video: Filmaufnahmen vom im Frühjahr vor Honshū angespülten Architeuthis.
Nippon TV News 24 Japan

Mit dieser Taktik und einer Menge Geduld waren die Forschenden letztlich erfolgreich, wie sie in den "Oceanographic Research Papers" berichten: Im Golf von Mexiko und im Exuma Sound nahe den Bahamas konnte das Team in Tiefen zwischen 550 und 950 Metern mehrere Begegnungen mit großen Tintenfischen aufzeichnen.

Vorsichtiger Jäger

Die Beobachtungen und Filmaufnahmen deuten darauf hin, dass die Tintenfische vor allem visuelle Räuber sind und Geruchsköder zugunsten optischer Signale ignorieren. Außerdem hatte das Exemplar die Plattform minutenlang umkreist, ehe es sich schließlich zum Angriff entschlossen hat. Daraus folgern die Biologen, dass Architeuthis seiner Beute zunächst eine Weile in gewissem Abstand folgt, bevor er zuschlägt.

Dies widerspricht der verbreiteten Annahme, Riesenkalmare würden normalerweise aus dem Hinterhalt angreifen. Die neuen Videoaufnahmen zeigen vielmehr, dass Architeuthis dux ein aktiver Jäger ist, der sich vor allem auf seine tellergroßen Augen verlässt. Robinson und seine Kolleginnen und Kollegen hoffen, mithilfe ihrer passiven Tiefseeplattform weitere Beobachtungen machen zu können – schließlich ist das Wissen vom Leben der Riesenkalmare in der Tiefsee noch äußerst lückenhaft. (tberg, 3.8.2022)