"Autorinnen sollen sammeln, was sie fasziniert", findet Linda Boström Knausgård. Sie selbst ist immer wieder Sujet ihrer Bücher.

Foto: Jasmin Storch

Auch wer noch keines ihrer Bücher gelesen hat, kennt Linda Boström Knausgård vielleicht schon – und zwar besser, als es ihr lieb ist. Als Ex-Frau des Starautors Karl Ove Knausgård taucht sie in ein paar Büchern aus dessen sein eigenes Leben fiktionalisierender Reihe Min kamp auf. Vor allem in Lieben über Vaterschaft und Beziehung kommt der Norweger ja ausführlich auf seine damalige Ehe zu sprechen. Manche Familienmitglieder haben ihm für die Bände Klage angedroht. Der Ex-Frau, deren psychische Labilität er unter anderem thematisiert hatte, musste er zusagen, nie mehr über sie zu schreiben.

Wenn Boström Knausgård mit Oktoberkind nun eigene Erinnerungen an ihr Leben vorlegt, erledigt sie diese Aufgabe nämlich selbst. Geht es darum, die Deutungshoheit über das eigene Sein zurückzugewinnen?

Eine Retourkutsche ist das Buch jedenfalls nicht, obwohl es immer wieder von ihm handelt, sie spricht ihn darin als "Du" an. Heute lebt sie in London, wohin er mit den Kindern nach der Trennung gezogen ist.

Elektroschockbehandlungen

Dreh- und Angelpunkt des Textes ist aber die psychiatrische Klinik, in die Boström Knausgård zwischen 2013 und 2017 wegen Depressionen wiederholt eingewiesen und wo sie Elektroschockbehandlungen unterzogen wurde. Es war nicht das erste Mal. Man hatte ihr gesagt, die Methode sei schonend, tatsächlich stellt sie fest, dass sie davon vergisst. Sogar die Namen ihrer Kinder.

Das ist für sie doppelt niederschmetternd. 1972 geboren, heimste die Schwedin Ende der 1990er für Gedichte viel Kritikerlob ein, 2011 wurde sie in ihrer Heimat mit Kurzgeschichten bekannter. Sie vertritt den Schlag "Autorinnen sollen sammeln, was sie fasziniert". Schreibend kämpft sie also gegen den Gedächtnisverlust an – in der Klinik (dank der österreichischen Krankenschwester Maria, die ihr Papier besorgt) und im nach dem Aufenthalt entstandenen Oktoberkind.

Im Original ist der Band 2019 erschienen. Noch unter dem Eindruck der Klinik erzählt die Autorin in knappen, intensiven Szenen vom Alltag dort, von in ihrer Wahrnehmung an Gewalt grenzenden Behandlungen, schlaflosen Nächten. Damit sie müde wird, muss sie tagsüber die Flure entlanghasten. Als Geflüchtete ins Land gekommene Pfleger imponieren ihr, der Trübsinnigen, mit ihrem Lebensmut. Stark.

220 Seiten statt Tausende

Dazwischen überblickt Boström Knausgård ihr Leben und vollzieht auf 220 Seiten die gleichen Lebensstationen nach, die ihr Ex-Ehemann auf mehreren Tausend Blatt beackert: Sie erinnert sich etwa an ihre Kindheit mit der Mutter, einer Schauspielerin. Linda mag sie nicht. In Stresssituationen bringt das kaum je lächelnde Kind kein Wort heraus, oft stellt Linda sich schlafend. Angst vor Einsamkeit und Machtlosigkeit prägt sie. Jugendlich schwänzt die Außenseiterin die Schule, ehe sie sich nach einer Trennung zusammenreißt. Man fühlt sich beim Lesen oft mit ihr unwohl.

Viele der Themen hat sie schon in ihrem zweiten Roman Willkommen in Amerika (2016) verarbeitet – ein so schmaler Band wie dieser, wo jüngere Ereignisse neu dazukommen.

Boström Knausgård erinnert sich an Urlaube zu jener Zeit, als die Bücher des Ehemanns sich "wie warme Semmeln" zu verkaufen begannen. Geldsorgen haben sie bald keine mehr. Im Haus auf dem Land, wo sie unter anderem leben werden, zerbricht aber das Familienglück. Linda nimmt eine Überdosis, während im Nebenzimmer die Kinder schlafen und neben ihr im Bett Karl Ove. Vor eineinhalb Jahren hat er ihr nun eröffnet, dass er die Scheidung will. "Meine Krankheit zog uns alle herunter. Die ganze Liebe wurde zu einem kratzenden Pullover, der wegmusste."

Zweimal tote Katze

Wo der Ex systematisch und unmittelbar im Ton am Mythos um sich baut, ist Boström Knausgård fragmentarisch. Zuweilen abrupt wechselnd folgen Zeiten und Szenen aufeinander. Psychologische Wucht wiegt mehr als Plot. Oktoberkind ist in der Komposition eher Memoir als Roman. Stellenweise taugt es als Gegenschuss zu Darstellungen des Bestsellerautor-Ex. Frappierend lassen manche Schilderungen Lindas (etwa als sie eine Katze tötet) auch an Tove, die psychotische Ehefrau des Professors Arne aus Knausgårds neuem Buch Morgenstern, denken.

Man kann Oktoberkind aus Interesse am Ex lesen. Doch dass Linda mehr als "die Ex-Frau von" ist, merken Leserinnen und Leser schnell. (Michael Wurmitzer, 4.8.2022)