Eines der bekanntesten Betonbauwerke in Österreich: die Wotrubakirche am Georgenberg im Südwesten Wiens.

Foto: Robert Newald

Diakon und Architekt Hubert Keindl in der Wotrubakirche.

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Umweltaktivistinnen und das Protestdenkmal "Beton-Ludwig" im Rathauspark.

Foto: imago/Martin Juen

Umringt von saftigem Grün, unter einem wolkenlosen Himmel auf der Spitze des Georgenbergs thront sie, die "in Stein gemeißelte Provokation": Die Kirche Zur Heiligsten Dreifaltigkeit am Rande von Wien besteht aus 152 asymmetrisch übereinandergestapelten, durch hohe, schmale Glasscheiben getrennte Betonblöcke. Sie geht auf den Entwurf des Bildhauers Fritz Wotruba zurück, bekannt ist sie daher im Volksmund als Wotrubakirche.

Dass ihr Diakon Hubert Keindl sie als "Provokation" bezeichnet, hängt damit zusammen, dass sie seit ihrer Entstehung von vielen als solche empfunden wurde. Die Idee, ihre Umsetzung, der spätere Ausbau: Die längste Zeit löste die Kirche im 23. Wiener Bezirk Kontroversen aus. Sie galt als klotzig, trist, hässlich, eines Gotteshauses unwürdig. Keindl hingegen sagt, er sei bis heute von dem Gebäude fasziniert. Er gehört der Gemeinde am Georgenberg seit ihren ersten Tagen an, seit 2006 ist er Diakon. Und Keindl ist Architekt, Beton begleitet ihn also in doppelter Hinsicht seine gesamte Karriere hindurch. "Es ist ein wunderbarer Baustoff", lautet Keindls erste Botschaft. "Auch in Beton kann man sich geborgen fühlen", die zweite.

Das Bauwerk aus den 1970ern erhielt später Preise, heute steht es als eines der bedeutendsten brutalistischen Gebäude des Landes in Architekturführern. Das Material, aus dem es geschaffen wurde, hat allerdings inzwischen einen gehörigen Imageschaden erfahren. Beton ist der wichtigste Bau- und Werkstoff des 20. und 21. Jahrhunderts. Er hat Wohnraum und Infrastruktur für Milliarden Menschen geschaffen, steckt weltweit als tragender Unterbau in Gebäuden und Fassaden, kann in jede Form gebracht und von Materialien aller Art verkleidet werden. Beton hat stets Modernität symbolisiert. Heute hingegen steht er zusehends für Rückschritt.

Beton-Metapher

Wie schlecht sein Ruf ist, macht der Konflikt um die sogenannte Stadtstraße in der Wiener Donaustadt deutlich. Die Straße soll die Seestadt Aspern mit der Südosttangente verbinden. Aus Sicht der Wiener Regierung ist der Zubringer für ein Neubauviertel "essenziell" für Wohnbau- und Stadtentwicklungsvorhaben im 22. Bezirk. Kritikerinnen und Kritiker hingegen bezeichnen Michael Ludwig als "Betonbürgermeister" und "Betonierer", der in Zeiten der Klimakrise eine "Betonpolitik" verfolge und "zubetoniert", statt verkehrsdämpfende Maßnahmen zu beschließen. Auch ein Protestdenkmal setzten sie ihm: einen mannshohen Kopf aus Beton. Dass sich die grüne Klubchefin Sigrid Maurer zurückhaltend äußert über eine mögliche gemeinsame Ampelkoalition mit den Roten, begründete sie damit, dass die SPÖ beim Klimaschutz "eine Partei des Betons und des Benzins" sei.

Beton ist einer der meistverwendeten Baustoffe der Welt. Der Konflikt, der sich auch innerhalb der SPÖ zu einer Streitfrage ausgewachsen hat, dreht sich also zunächst einmal konkret um das Material. Auch sinnbildlich wird gerne auf Beton zurückgegriffen – vorwiegend negativ. Auf sprachlicher Ebene habe sich der "Betonkopf" als Synonym für einen "unverbesserlichen Sturkopf" seit den 1970er-Jahren verbreitet, erklärt Andreas Musolff. Der Deutsche ist Professor für interkulturelle Kommunikation an der University of East Anglia in Norwich, Großbritannien. Er gilt als Koryphäe auf dem Gebiet der Metaphern. In der Sprachwissenschaft nennt man den Bedeutungsteil "-kopf" im Beton-, Dumm- oder Sturkopf eine Metonymie: Ein Körperteil steht für eine Person oder einen Personentyp. Dabei zeige sich: "Viele ,X + kopf‘-Bildungen sind nicht besonders positiv."

Beton- vs. Sturkopf

Zudem diene der "Beton"-Zusatz zusätzlich auch als Metapher, sagt Linguist Musolff: Tatsächliche oder stereotypische Merkmale des Betons wie Härte oder Undurchdringlichkeit werden figürlich auf die charakterliche oder intellektuelle Sturheit einer Person übertragen. Dass Verben wie ein- oder zubetonieren automatisch einen negativen Klang hätten, sei der negativen Einschätzung des Betons geschuldet, die seit 50 Jahren dominant sei. Wie aber geriet der Beton überhaupt derart in Verruf? Beton ist ein künstlich hergestellter Stein, die Bestandteile liefert die Natur: Zement aus Ton und Kalk, Wasser, Gesteinskörnung aus Sand und Kies. In der Antike kreierten die Römer die Vorstufe zu dem heute benützten Material, indem sie Kalkmörtel vulkanisches Gestein hinzufügten. So entstand jener wasserunlösliche Bau- und Werkstoff, aus dem sie ihr Imperium bauten: ihre Prunkbauten, Gebäudefundamente, Aquädukte, Brücken, Tunnel, Hafenanlagen, Straßen.

CO2-Treiber

Mit dem Untergang des Römischen Reiches verlor auch der Beton an Bedeutung. Im 19. Jahrhundert entdeckte man ihn wieder, entwickelte ihn weiter, fügte Zement bei und läutete so ab der Jahrhundertwende das moderne Betonzeitalter ein. Vor allem durch die Verbindung mit Stahl "kann der Mensch Dinge herstellen, die mit keinem anderen Material möglich sind", sagt der Architekt Otto Kapfinger, der zu historischen Betonbauten in Wien forscht. Die Brücke über den Großen Belt in Dänemark etwa könne 1,7 Kilometer stützenfrei überspannen: "Ein Wunderwerk!"

Aber Kapfinger sagt auch, er habe gleichzeitig "volles Verständnis für den akuten Kampf gegen betonintensive Straßenprojekte am Stadtrand, die wieder nur bodenversiegelnde, verkehrserregende Gewerbe- und Supermarktwidmungen bedienen". Dass Beton heute weniger geschätzt wird, liegt auch am wachsenden Umweltbewusstsein. Die Betonindustrie gehört zu den wesentlichen Verursachern von Treibhausgasen, ein großer CO2-Treiber ist vor allem die Herstellung von Zement. Zudem werden Rohstoffe wie Sand weltweit knapper. Zwar wird vermehrt mit recyceltem Beton gearbeitet, was Sand und Schotter ersetzt, der Effekt für die Ökobilanz sei allerdings "überschaubar", wie Benjamin Kromoser, Leiter des Instituts für Hochbau, Holzbau und kreislaufgerechtes Bauen an der Universität für Bodenkultur in Wien betont. "Rein vom Image her ist Holz der Rohstoff des 21. Jahrhunderts", aber: 60 Prozent des weltweit verwendeten Baumaterials seien immer noch Beton. "Ohne Beton geht es nicht." Kromoser plädiert dafür, Baustrukturen generell effizienter zu gestalten: Material müsse gezielter, also reduzierter eingesetzt und allen voran der Anteil von Zement minimiert sowie aus erneuerbarer Energie hergestellt werden. Am meisten schont es das Klima, wenn die Lebensdauer erhöht werde.

100 Jahre Lebensdauer

Aktuell stehen zahlreiche Bauten aus der Boomzeit der 1960- und 1970er-Jahre am Ende ihrer Tage. Viele von ihnen haben nach einem halben Jahrhundert "den ‚point of no return‘ erreicht", erklärt Hermann Papouschek, Leiter der Wiener Magistratsabteilung 29 (Brückenbau und Grundbau). Er ist verantwortlich für die Instandsetzung aller 839 Brücken Wiens sowie der 526 Stützmauern, Lärmschutzwände und weiterer Bauwerke. Bei kleineren Schäden sei es "gängige Methode", Teile auszutauschen. "Irgendwann zahlt sich ähnlich wie beim Auto die Reparatur nicht mehr aus. Zu Tode reparieren ist technisch fragwürdig und geht sehr ins Geld." Bei entsprechender Behandlung halte heute gestellter Beton aber mindestens 100 Jahre. Es komme auf die äußeren Einflüsse an, sagt Papouschek: In Hochhäusern sei er beständiger als in Brücken, wo er der Witterung direkt ausgesetzt ist. Grund für die Beeinträchtigungen im Alter seien Wasser und Auftaumittel – und die würden alle Materialien beschädigen, auch Holz. Beton symbolisiere für ihn nicht Rückschritt, so Papouschek, sondern viel eher Festig- und Beständigkeit.

Um Beton zukunftsfitter, also leistungsfähiger und ressourcenschonender zu machen, wird stetig weitergeforscht. Die Architekten des höchsten Gebäudes der Welt, des 2010 eröffneten Burj Khalifa in Dubai, wählten Beton als primären Baustoff, um extremen Windverhältnissen in 828 Metern Höhe zu begegnen. "Beton ist ein großartiger Baustoff, man muss ihn nur richtig einsetzen", schreitet Johann Kollegger, Bauingenieur und Professor am Institut für Tragkonstruktionen an der Technischen Universität Wien, zur Verteidigung aus. Beton lasse sich in jede erdenkliche Form bringen. Es sei schließlich kein Zufall, dass er nicht nur weiterhin als Konstruktionsmaterial, sondern zusehends auch als Bodenbelag oder im Möbelbau eingesetzt werde. "Wenn das gut gemacht ist", sagt Kollegger, "dann kann das sehr schön aussehen." (Anna Giulia Fink, 4.8.2022)