Regelkonform benutzte Rolltreppe bei einer Wiener U-Bahn-Station.

Foto: APA/Roland Schlager

"Schau, da dürfte gerade wieder ein Zug aus Wien gekommen sein", sagt eine Frau scherzend zu ihrer Begleiterin in der großen Halle des Grazer Hauptbahnhofs. Man folgt dem Blick der beiden Damen in Richtung Rolltreppen, und tatsächlich: Im Schein des psychedelischen roten "Himmels" von Peter Kogler, der die gesamte Decke der großen Halle ziert, sieht man sie: Wie Soldatinnen und Soldaten stehen sie stramm auf der rechten Seite der Rolltreppe. Fein säuberlich hintereinander aufgereiht, jede kleine Plauderei oder jedes elementare Gespräch für die Dauer der Aufwärtsfahrt haben sie unterbrochen. So fahren sie konzentriert gegen das Licht. Das ist in Graz kein gewöhnlicher Anblick.

Vom Tragetuch bis zum Rollator

Man ist selbst gerade mit dem Zug aus Wien angekommen und weiß, dass die Vermutung der Passantin richtig ist. Rechts stehen, links gehen. Das ist keine Slogan für die Fortschrittlichkeit von Ideologien, sondern die eherne Rolltreppenregel – nennen wir sie in der Folge einfach RR – der Bundeshauptstadt. Neugeborene lernen sie quasi schon im Tragetuch, und noch seinen letzten Rollator wird man, wenn man nicht den Aufzug nimmt, in Wien niemals auf der linken Seite einer Rolltreppe parken.

Das ist sehr zu begrüßen, wenn man es einmal richtig eilig hat. Man kann ungehindert an den strammstehenden Wienerinnen und Wienern vorbeizischen. Es ist nicht so angenehm, wenn man ein paar Wochen oder Monate woanders war, sei es in einer anderen Landeshauptstadt oder der einen oder anderen europäischen Großstadt, und kurz gedankenverloren auf die RR vergisst. Gnade einem Gott! "Hearst?!" oder "Hallo?!" gehören da zu den freundlicheren Aufforderungen der charmanten Stadtbevölkerung. "Schleich di!!" zu den schon ein bisschen ungehaltenen Unmutsbezeugungen von vorbeipolternden Menschen.

Unwirtschaftlich

Aber ist die RR wirklich sinnvoll? Nein, erkannten Forscher der University of Greenwich schon 2011. Denn insgesamt würde die Kapazität einer Fahrtreppe, so der technische Terminus, nicht optimal genutzt werden, wenn die Hälfte der Treppe für Eilige freigehalten würde. Die Rechnung ist simpel: Nur etwa ein Viertel der Menschen geht auf Rolltreppen, der Rest zieht es vor, stehen zu bleiben. Für ein Viertel aber die Hälfte der Fläche zu reservieren ist unwirtschaftlich.

Diese Weihnachtsmänner und -frauen auf der Rolltreppe einer Underground-Station in Brixton/London hatten 2018 gut lachen. In Wien wäre die Hälfte von ihnen wohl nicht im Bild.
Foto: AP/Gareth Fuller

2017 machten die Betreiber der Underground in London einen dreiwöchigen Versuch in ihrer am stärksten frequentierten Station, Holborn, für den sie Fahrgäste baten, nur rechts zu stehen und links zu gehen, und kamen zu ähnlichen Ergebnissen: Insgesamt würde sich durch das Anstellen, dass bei der RR nötig ist, die Fahrzeit im Durchschnitt für alle verlängern.

In Tokio und Hongkong gab es über Jahre immer wieder Initiativen, um das Gehen auf Rolltreppen aus Gründen der Sicherheit überhaupt einzustellen. Aber ein weiteres Argument, das gegen die RR ins Treffen geführt wird, ist eines von Technikerinnen und Technikern: Rolltreppen nützen sich durch die ungleiche Gewichtsverteilung auf der rechte Seite schneller ab und werden so allgemein schneller kaputt.

Allgemeinwohl versus Sekundenersparnis

Dass diese Argumente die Wiener Fahrgäste einer der über 350 Rolltreppen der Wiener Linien überzeugen können, bleibt unwahrscheinlich. Für das Allgemeinwohl auf ein paar Sekunden zu verzichten, die man früher am Ziel ist, reicht die Motivation wohl kaum aus.

In Wien verkehren die Rolltreppen in Richtung Untergrund seit 1978. Dass die Rechtssteh-Etikette seit Anbeginn galt, ist unwahrscheinlich. Doch wenn man in Wien jemanden fragt, warum wohl etwa in den Bundesländern niemand diese Regel auf Rolltreppen befolgt, bekommt man pfeilschnell eine Gegenfrage: "Weils kane hobn?"

In Graz wurde die erste Rolltreppe am 29. August 1959 im Kaufhaus Kastner & Öhler in Betrieb genommen. Noch heute kann man dort auch links stehen und sich entspannt mit seiner danebenstehenden Begleitung unterhalten. Außer vielleicht, die Person kommt aus Wien. (Colette M. Schmidt, 28. 8. 2022)