Und wieder einmal hat sich die österreichische Herangehensweise an ein Problem bestens bewährt: Erst versagen die Behörden, dann kommt die Mahnwache, bis alles in die unverbindliche Beteuerung mündet, es muss was gschehn.

Die moralisch aufgeladenen Reaktionen diverser Teile der Öffentlichkeit, insbesondere von Politikern, erwiesen sich – jedenfalls bis auf weiteres – wieder einmal als substanzlose Appelle an nicht ohne weiteres fassbare böse Mächte, mit der besonderen Qualität eingefrorener Posthorntöne. Dass Hass unentschuldbar sei, vor allem in Österreich keinen Platz finde, wo doch das respektvolle Miteinander im Vordergrund zu stehen habe, hätte alles auch gelten sollen, ehe Lisa-Maria Kellermayr eben wegen des Ausbleibens dieser Tugenden, ja wegen des brutalen Umschlagens in ihr Gegenteil, im Alter von 36 Jahren ihr Leben beendete.

Niedertracht ist der österreichischen Seele nicht fremd, dafür gibt es zahlreiche Belege aus der Literatur und der Geschichte. Soweit es sich um Letztere handelt, ist Österreich dafür berüchtigt, sie möglichst lange zu vertuschen und nur, wenn das nicht mehr möglich ist, ihre Aufarbeitung möglichst lange hinauszuschieben, wie der aktuelle Versuch zeigt, das Verhalten der österreichischen Polizei im März 1938 dem Vergessen zu entreißen. Konnte Karl Kraus noch sagen, der Skandal beginne dort, wo die Polizei ihm ein Ende macht, so beginnt er heute dort, wo sich die Polizei an ihm beteiligt. Sei es aus Indolenz, sei es aus Unfähigkeit, sich im Internet zurechtzufinden. Dass es aus klammheimlicher Sympathie mit den Querstinkern der Szene geschehen sein könnte, darf man als respektvoller Staatsbürger gar nicht denken, erinnert man die Ratschläge, die die Polizei der gepeinigten Ärztin zuteilwerden ließ.

Bundeskanzler Nehammer fordert "Redlichkeit in der Beurteilung des Falls".
Foto: APA/AFP/ALEX HALADA

"Redlichkeit in der Beurteilung des Falls"

Vor solchen Gedanken will einen der ehemalige Polizeiminister Karl Nehammer bewahren, der in einem Sommergespräch "Redlichkeit in der Beurteilung des Falls" forderte. Es seien immer zwei Seiten zu hören und zu überprüfen. Auf das Ergebnis der Überprüfung darf man im Lichte bisheriger redlicher Überprüfungen im Umfeld der Polizei ebenso gespannt sein wie auf das, was herauskommt, wenn sich Nehammer "ansehen will, ob gesetzlich mehr getan werden muss". Derlei Blabla mag politischer Deformation geschuldet sein. Aber dass in einem Atemzug mit Kellermayr auch er sich nach Drohungen "gegen mich und meine Familie" im Gefolge einer besoffenen Polizeigeschichte als vom Hass im Netz betroffen darstellt, lässt sich nur noch mit seinem Ironieverständnis erklären. Wer sagt ihm endlich, dass Geschmacklosigkeit mit Ironie nichts zu tun hat?

Aus der Anonymität Hass zu versprühen, weil einfach und mit breiter Wirkung möglich, ist eine Versuchung, der nicht jeder Charakter widerstehen kann. Dagegen helfen, wie gechattete Freude über Kellermayrs Tod beweist, weder Moralappelle noch Mahnwachen, und es wäre sinnlos, die Niedertracht zu privatisieren.

Hetzer mögen sich als Freigeister fühlen, aber sie werden von einer Partei ungeistig alimentiert, die gegen Wissenschaft Entwurmung und Sympathien für Diktatoren als Meinungsfreiheit empfiehlt und bei der Respekt vor Mitmenschen an Bodenständigkeit gebunden ist. Solange Demokraten vor diesen Kräften resignieren, bleibt Hassposter zu verfolgen Sisyphusarbeit. (Günter Traxler, 4.8.2022)