Kinder brauchen die Hilfe von Erwachsenen, um Handlungsbögen zu schließen und gestärkt aus Krisen zu kommen.

Foto: Michaela Köck

Haare ausreißen, zwanghaftes Sammeln von weggeworfenen Dosen, Flaschen, Steinen und Holzstücken bei jedem Spaziergang, Schulphobie – das sind Verhaltensauffälligkeiten, die Sabine Wirnsberger vom Institut für Familienförderung in Graz an einer großen Gruppe von Kindern im Alter von vier bis acht Jahren derzeit bemerkt.

Die Problematiken seien zwar unterschiedlich, was der Psychologin aber jedenfalls auffällt: Die Pandemie hat das soziale Lernen der Kinder eingeschränkt. Auslöser für Ängste und soziale Unsicherheiten sieht Wirnsberger vor allem in der Unvorhersehbarkeit der vergangenen Jahre.

Dass Kinder nicht wussten, ob sie in den Kindergarten gehen oder zu Hause bleiben, die Großeltern sehen oder Freundinnen treffen dürfen, war eine enorme Belastung – auch für die Eltern, die ihre Sorgen unbewusst ausstrahlen. Dass seit Februar Krieg in Europa herrscht, die Energie- und Klimakrise sowie die Teuerung ständig Thema sind, drückt auch bei den Kleinsten zusätzlich aufs Gemüt.

Krisenmodus

Die Belastungen in der Gesellschaft sind nicht mehr voneinander zu trennen, ist Kathrin Sevecke überzeugt. Die Direktorin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Innsbruck spricht von einer Aneinanderreihung von Krisenzuständen.

Wird darüber nicht geredet und ausreichend auf die Emotionen und Ängste der Kinder eingegangen, kann das langfristige Auswirkungen auf deren Entwicklung haben. Depressionen, Angststörungen, Suchtverhalten, suizidales Verhalten und Selbstverletzung sind wohl die plakativsten. Eine belastete Kindheit und Jugend kann zudem das Risiko von Schulabbruch und Instabilität am Arbeitsmarkt erhöhen. Derartige Zukunftsfolgen gelte es jedenfalls zu vermeiden.

Für bereits belastete Kinder und Jugendliche fordert Sevecke daher unbürokratisch schnelle Hilfe, doppelt so viel Personal in der Kinderpsychologie, mehr Schulpsychologen sowie Schulpsychotherapie und mentale Gesundheit als Schulfach. Wichtig sei auch, Eltern bewusst zu machen, dass psychische Probleme auf einer Ebene mit körperlichen Beschwerden liegen.

Alltag besprechen

Im direkten Umfeld, also in der Familie, im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft, brauchen Kinder Kommunikation auf Augenhöhe für ihre Alltagsbeobachtungen. Im Urlaub etwa könnten sie Brände sehen und riechen oder erleben, dass es in manchen Regionen nicht mehr genug Trinkwasser gibt.

Werden diese Erfahrungen nicht ausreichend besprochen, haben Kinder Angst. Ein einfaches "Davor musst du dich nicht fürchten" beruhigt nicht, weiß Barbara Juen. Sie ist klinische und Gesundheitspsychologin mit den Schwerpunkten Notfallpsychologie, Krisenintervention und Akuttraumatisierung.

Sie weiß: Krisen sind die Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung. Aber: Kinder brauchen Erwachsene, die sie durch diese schwierige Phase leiten – und damit sind nicht nur Eltern gemeint, auch Pädagoginnen und Erzieher sowie Trainerinnen in Vereinen spielen eine entscheidende Rolle.

Offene Gespräche

In Gesprächen rät Juen, sich von den Fragen der Kinder leiten zu lassen. Ein Beispiel: Auf die Frage, ob der Krieg auch zu uns kommen kann, empfiehlt sie eine Gegenfrage: "Warum glaubst du das?" Die Antwort hilft Erwachsenen, gezielt auf die Ängste des Kindes einzugehen. Das Grundprinzip lautet: nicht abschweifen oder lange Romane erzählen.

"Kinder brauchen Informationen, um die Situation einordnen zu können", sagt Juen. Lassen sich Eltern und Lehrpersonal auf offene Gespräche mit Kindern ein, kann das bereichernd für alle Beteiligten sein. "Viele haben Angst, im Gespräch mit Kindern etwas kaputtzumachen. Aber mit der richtigen Strategie passiert das nicht." Die Angst vor dem Krieg etwa sei dieselbe wie bei Erwachsenen, aber die Fantasie der Kinder reiche viel weiter.

Laut Juen brauchen sie Hilfe, um den Handlungsbogen schließen zu können. Malen sie beispielsweise plötzlich Kriegsszenen, können Erwachsene darauf hinweisen, auch einen Rettungswagen, das Krankenhaus oder den Wiederaufbau zu zeichnen.

"Im Idealfall machen Krisen stärker", sagt Barbara Juen. Dem stimmt auch Sabine Wirnsberger zu. "Jede Bedrohung ist mit der richtigen Strategie bewältigbar", sagt sie. Umweltprojekte in Volksschulen, wie etwa Müll sammeln oder Wasser sparen, demonstriere Kindern die eigene Handlungsfähigkeit. "Dadurch ist die Bedrohung weniger stark", sagt sie. "Das Schlimmste ist der Kontrollverlust." Dieser führe immer zu Beeinträchtigung und Verunsicherung.

Raus aus der Negativspirale

Die gute Nachricht ist aber, dass es viele Möglichkeiten gibt, um wieder in einen gesunden Entwicklungsverlauf zu kommen, sagt Wirnsberger.

Um aus der Negativspirale herauszukommen, empfiehlt sie Eltern, "sechs Minuten Wohlfühlzeit" mit ihren Kindern zu verbringen. Sie können sich etwa am Abend gemeinsam hinsetzen und besprechen, was an diesem Tag schön war oder gut gelungen ist.

"Bei allen Belastungen ist es wichtig, den Blickwinkel zu ändern", sagt sie und empfiehlt zudem, vorhersehbare Situationen zu schaffen. Denn: Alles Unbekannte stresst. Das gelte auch für positive Erlebnisse.

Daher: Frühstück, Mittag- und Abendessen zur selben Zeit, am Vortag besprechen, was man am nächsten Tag unternimmt und wann die Oma kommt. In Krisenzeiten stärken gemeinsame Momente wie ein Spiele- oder Filmabend mit Popcorn zudem die Bindung – und das hilft allen Beteiligten, herausfordernde Zeiten gut zu überstehen. (Julia Beirer, 5.8.2022)