Fünfzehn Jahre bevor sein Roman eines Schicksallosen erschien, hielt Imre Kertész in Tagebuchnotizen die ganze Problematik des Schreibens fest. Das "Arbeitstagebuch", das er von 1958 bis 1962 führte und das erst in seinem Nachlass entdeckt wurde, erklärt nicht nur die Genese dieses Romans, es ist gleichsam ein philosophisch-poetologisches Lesebuch zu jenem Werk, das ihn Jahrzehnte später berühmt machen sollte und heute zu den wichtigsten Texten der Holocaustliteratur zählt. Darüber hinaus sind diese Aufzeichnungen auch so etwas wie der Schlüssel zu Kertész’ literarischem Werk.

Kertész’ Tagebuch dient als Schlüssel zu seinem Werk.
Foto: Imago / EST & OST / Martin Fejer

Um den Roman, der keine Autobiografie ist, aber auf persönlichen Erfahrungen im Lager gründet, hatte Kertész lange gerungen. Eigentlich hatte er damals schon drei Jahre an einem anderen Roman gearbeitet, der Ich, der Henker heißen sollte – aber über mehr als ein einziges fertiges Kapitel war er nicht hinausgekommen.

Er plagte sich nicht nur mit dem Stoff, auch die entsprechende Technik zu finden schien ihm lange problematisch. So erprobte er sich zunächst in der Lektüre und analysierte Dostojewski, Camus und Thomas Mann: Schuld und Sühne, Der Fremde, Der Zauberberg.

Solcherart versuchte er auch die Entstehungsgeschichte des geplanten Werks, mit dem er nicht vorankam, zu reflektieren. Irgendwann begriff er, dass aus diesem Versuch einer Klärung ein anderer Text entstand. Eineinhalb Jahre später notierte er schließlich den Entschluss, den ursprünglichen Plan "beiseitezulegen und stattdessen meine eigene Mythologie zu schreiben – die Geschichte meiner Deportation".

Dreizehn quälende Jahre

Stand anfangs noch der Zweifel, es wäre vielleicht nur ein "Nebenprodukt eines großen Wahns", wusste er nun, dass er unverzüglich diesen Text schreiben müsse. Am Ende sollte es dreizehn quälende Jahre dauern. Immer wieder sucht er die Ablenkung, indem er – mit schlechtem Gewissen – Komödien schreibt. Wie kann man in dieser Situation Lustspiele verfassen, fragt er sich, konstatiert Ekel, Entfremdung und sieht sich selbst als "Gespenstererscheinung", die die eigene Identität nicht anerkennen will.

Dazwischen skizziert er fast drehbuchartig, reflektiert Methode und Technik, notiert die existenzielle Bedeutung des Themas, die Angst, auch damit zu scheitern: "Ich erwarte nichts Gutes", Missverständnis, Dummheit, Gewalt, das Leben "im dunklen Schatten der Katastrophe" …

Der Roman wird als radikaler Text konzipiert, bis zur "totalen Entfremdung von allem", ein "Bildungsroman", der jenes Elend darstellen soll, das in der Seele des Protagonisten "das Erlebnis des Lebens überschwemmt". Er gibt ihm den vorläufigen Titel Ferien im Lager und notiert sofort: "Ein schlechter Titel". Im Tagebuch schreibt er gewöhnlich vom "Lagerroman", "Deportationsroman", "Auschwitzroman" oder dem "Muselmann" … Immer wieder stellt er das Projekt infrage, es seien ja nur die Eindrücke eines 14-Jährigen, also "Kleinrealismus".

Totalitäre Welt

Auch wenn er den Stoff klar vor Augen hatte, musste er um die Form – zwischen Autobiografie und Roman – ringen. Dass ihm dabei die Lektüre des Zauberbergs zu Hilfe kam, mag auf den ersten Blick überraschen, doch Kertész entdeckte darin das gleiche Thema, die "Dialektik von Leben und Tod", erzählt doch auch der Zauberberg von einem jungen Mann, der erstmals dem Tod begegnet, und wie im Sanatorium von Davos ist auch das Individuum im Lager dem Tod geweiht. Für sich selbst schwebte Kertész ein "zutiefst lebensfeindliches Buch" vor und dass man die Gefühle, die ihn dazu inspirieren, als "Heimweh nach dem Tod" zusammenfassen könnte.

Imre Kertész, "Heimweh nach dem Tod. Arbeitstagebuch zur Entstehung des ‚Romans eines Schicksallosen‘". 24,70 Euro / 144 Seiten. Rowohlt, 2022
Cover: Rowohlt

Ungefähr zur selben Zeit, 1961, begann er auch sein Galeerentagebuch zu schreiben, das, als Roman ausgewiesen, 1992 erschien und in dem er die Bestimmtheit des Menschen in einer totalitären Welt aufgrund seiner eigenen Erfahrungen zu dokumentieren versuchte. Der erste Satz dort lautet übrigens: "Vor einem Jahr habe ich mit der Arbeit am Roman angefangen", gemeint ist der spätere Roman eines Schicksallosen.

Nicht nur deswegen steht auch das Galeerentagebuch in einem engen Zusammenhang, und der spätere Titel des Romans rührt vom selben Grundthema her: Schicksal sah Kertész als persönliche Notwendigkeit; wenn Wirklichkeit allerdings nur als "uns auferlegte Determiniertheit" erlebt wird, sei sie im Grunde Schicksallosigkeit, genau diese Unfreiheit spiegle die Lagererfahrung.

In Heimweh nach dem Tod reflektiert Kertész geradezu bis zur methodischen Schmerzhaftigkeit über diesen Themenkomplex, was Lothar Müller in seinem Nachwort treffend als "Strenge gegenüber dem Lebensstoff" bezeichnet.

In ihrer Konsequenz vermögen uns die Aufzeichnungen zu überraschen, aber auch in der Kontextualisierung mit dem französischen Existenzialismus oder Thomas Mann. Denn am Ende ist der moderne Mensch immer heimatlos – Hans Castorp im Zauberberg ebenso wie der Mensch in Auschwitz. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 6.8.2022)