Ob im Krieg oder in der Wirtschaft, am Ende werden die Dinge einzig und allein über eine Frage entschieden: wie die Balance zwischen Angebot und Nachfrage ausfällt. Der Ton, in dem Wjatscheslaw Newmertschynsky seine These vorträgt, lässt keinen Zweifel daran, wie sehr er sie im Lauf seines Lebens verinnerlicht hat. Auch die russischen Raketen, die seit Ende Februar in unregelmäßigen Abständen nahe seinem Gut einschlagen, haben daran nichts geändert. "Wenn das Angebot zu groß ist und die Nachfrage zu klein, haben wir ein Problem. So einfach ist das. Putin hin, Invasion her."

Getreidefeld bei Odessa – 2020 produzierte die Ukraine 64,3 Millionen Tonnen Getreide.
Foto: EPA/LESZEK SZYMANSKI

Unter den Bauern, die tagein, tagaus die Felder der Südukraine beackern, gehört der 48-Jährige zu einer so schmalen wie privilegierten Klasse: jener, die unter dem Überfall Russlands auf die Ukraine noch nicht leidet. "Ich hatte Glück und habe alle meine Verträge noch vor dem Einmarsch abgeschlossen."

Entscheidend für sein Wohlergehen und das seiner sechs Mitarbeiter, die in dem vor den Toren der Millionenstadt Odessa gelegenen Dorf Prylymanske 600 Hektar (sechs Quadratkilometer) Land bearbeiten, sei aber etwas anderes gewesen. "Ich verkaufe im Inland und bin nicht auf den Export angewiesen. Nur deshalb geht es mir im Vergleich zu anderen noch immer relativ gut." Wie lange das so bleiben wird, sei derweil eine andere Frage. "Die Getreidepreise sind im Keller. Wenn die Situation so bleibt, wie sie ist, sehe ich nicht, wie sich das ändern soll. Ich kenne kleine Bauern, die jetzt schon nicht mehr wissen, wie sie überleben sollen."

"Wir können uns nicht auf den Deal verlassen"

Gibt ihm das Abkommen über den Getreideexport auf dem Seeweg Hoffnung, das die ukrainische Regierung jetzt unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei mit Russland getroffen hat? "Nein. Auf das, was da drinsteht, können wir uns nicht verlassen." Mit dem Optimismus von UN-Generalsekretär António Guterres, den dieser als Reaktion auf die Einigung von Istanbul verströmte, kann Newmertschynsky entsprechend wenig anfangen. "Es kann sich alles von heute auf morgen ändern. Den Russen kann man nicht vertrauen. Punkt."

Anfang der Woche legte die Razoni am frühen Morgen von einem Kai des Hafens von Odessa ab. Ein Medienereignis erster Güte: Der im westafrikanischen Sierra Leone registrierte Frachter war der erste, der seit Beginn der Invasion am 24. Februar ukrainische Gewässer mit Getreide an Bord verließ. Vorangegangen war seinem Auslaufen ein Tauziehen um Routen, Umfang und Sicherheitsgarantien, das einerseits offenlegte, wie tief das Misstrauen bei den Überfallenen wie bei den Invasoren sitzt.

Auf der anderen Seite offenbarte die Einigung, dass es trotz der verfahrenen Situation auf den Schlachtfeldern des Donbass und im Süden der Ukraine immer noch Chancen auf ein Auskommen gibt. Von der Möglichkeit der Ausfuhr von Getreide auf dem Seeweg hängt nicht nur das Schicksal der Ukraine ab, sondern das von Millionen Menschen im Rest der Welt. Wenn die Einigung von Istanbul nicht hält und das Schwarze Meer weiter von der russischen Marine blockiert wird, werden laut einer aktuellen Einschätzung des World Food Program (WFP) 50 Millionen Menschen in 45 Ländern nicht mehr genug zu essen haben, um zu überleben. Die Mehrheit der Betroffenen lebt im Nahen Osten und in Ostafrika.

Problem noch lange nicht gelöst

So sehr sich jene, die das dort so dringend benötigte Getreide produzieren, der dramatischen Lage bewusst sind, so wenig fühlen sie sich dafür verantwortlich. "So furchtbar das alles ist: Wir können daran derzeit nichts ändern", sagt Wjatscheslaw Newmertschynsky. Was man über der von den Vermittlern des Deals von Istanbul verbreiteten Euphorie nicht vergessen dürfe, ist laut dem ukrainischen Großbauern allein die Tatsache, dass es sich bei den im Bauch der Razoni verstauten 26.000 Tonnen um Getreide handle, das schon vor der Invasion in den Silos im Hafen von Odessa gelagert war. Bei der Fuhre jener 16 Frachter, die dort noch vor Anker liegen und in den kommenden Tagen und Wochen auslaufen sollen, handle es sich ebenfalls um Volumen, die bereits vor dem Überfall dort eingelagert waren.

Ein Lokalaugenschein im Herzen des Hafens von Odessa scheint Newmertschynsky recht zu geben. In Friedenszeiten bildet der Lärm, der von dort her erklingt, einen fixen Bestandteil der Geräuschkulisse der Stadt: das Brummen der Lkws, die unentwegt die Terminals mit Waren beliefern; das Klinkern der Kräne, die sie auf die Schiffe verladen; die Horne der Schlepper, die die Frachter aus der Bucht ins offene Meer hinausziehen; das Geraune der Tagestouristen, die von Feriendampfern aus aller Herren und Damen Länder nach Odessa schippern, um zu erkunden, was es mit dem Mythos der Stadt als Zentrum der hohen Künste und der niedrigen Instinkte auf sich hat.

Lagerraum in Silos ist rar und teuer.
Foto: imago / Nina Liashonok

Im Sommer 2022 ist nichts von alldem zu hören und zu sehen. Der Hafen von Odessa gleicht heute einem Hochsicherheitstrakt. Fotos und Filmaufnahmen, und sei es aus der Ferne, sind streng verboten. Wer es trotzdem versucht, wird von Mitgliedern der allgegenwärtigen Territorial Defense Force, der ukrainischen Milizbewegung, unter gezogener Waffe angehalten und mit Verhaftung oder, wenn man Ausländer ist, mit Landesverweis bedroht. Den Crews jener Schiffe, die jetzt den Rest der Welt wieder mit Getreide beliefern sollen, wird von ihren Firmen bei Strafe untersagt, jegliche Information weiterzugeben, die ihre Arbeit, ihren Zeitplan und ihre Route angeht.

Mit gutem Grund. Unter jenen, die heute in der Ukraine Handel mit Getreide betreiben, geht nicht nur die Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin um. Keine Woche nachdem der Deal von Istanbul ausverhandelt war, nahmen die russischen Streitkräfte einen der prominentesten Agrar-Tycoons der Südukraine ins Visier. Ein nächtlicher Raketenangriff auf ein Anwesen in der Stadt Mykolajiw, die rund 110 Kilometer Luftlinie östlich von Odessa liegt, setzte dem Leben von Olexij Wadaturskyj ein vorzeitiges Ende. Von Präsident Wolodymyr Selenskyj abwärts, dessen Vorgänger dem 74-jährigen Besitzer des Agrarkonzerns Nibulon einst den Titel "Held der Ukraine" verliehen hatten, hegt kein Mensch im freien Teil des Landes Zweifel daran, das es sich um eine gezielte Attacke handelte.

"Die Kleinen haben keine Wahl mehr"

Für seine Kolleginnen und Kollegen stellt Wadaturskyjs Tod auch in anderer Hinsicht eine Zäsur dar. Während das politische wie das Geschäftsleben der Ukraine gestern wie heute unter dem Massenphänomen Korruption leiden, galt der Oligarch als proeuropäisch und unkorrumpierbar.

Angesichts der Lage würden sich indes nunmehr auch viele mittelständische und kleine Bauern entscheiden, ihre Ware unter der Hand zu verkaufen. "Vor allem die Kleinen haben keine Wahl mehr", sagt Jakubenko Mikola. Der 58-Jährige betreibt in der rund zweieinhalb Autostunden von Odessa entfernten Kleinstadt Katschuriwka einen Hof, der laut eigenen Angaben pro Jahr 2.000 Tonnen Weizen, Sonnenblumenkerne und Gerste abwirft. Auch wenn er da und dort noch selber Hand anlegt, besteht seine hauptsächliche Tätigkeit im Handel.

Laut Mikola eskaliert die Lage schon jetzt so weit, dass der lokale Bauernverband mittlerweile Webinare anbietet, im Rahmen derer seinen Mitgliedern Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie sie ihr Geschäft weiter legal betreiben können. "Ob's etwas hilft, wird sich zeigen. Übelnehmen kann ich es auf jeden Fall keinem." Das Problem stelle sich simpel dar. Nur wenige Bauern können sich eigene Silos leisten. Weil ihnen seit Kriegsausbruch die Abnehmer ausfallen, die das Getreide normalerweise sofort nach Ende der Ernte abtransportieren, wissen sie nicht, wohin damit.

Teure Vertriebswege

Das Transportieren per Lkw oder Bahn sei – mindestens – zwei- bis dreimal so teuer wie per Schiff. "Was sollen sie dementsprechend machen? Das Getreide einfach verrotten lassen? Ich habe selber noch 1.500 Tonnen Gerste bei mir lagern und weiß bis heute nicht, wohin damit." Vielen Bauern im Rest des Landes geht es nicht anders. Laut Schätzungen des Agribusiness Club, der ukrainischen Bauernlobby, sitzen seit Kriegsausbruch zwischen Lwiw, Charkiw und Odessa über 20 Millionen Tonnen Getreide fest.

Wolodymyr Warbanez, Vorsitzender des lokalen Bauernverbands von Odessa (li.), mit einem Kollegen.
Foto: privat

Laut dem Vorsitzenden des lokalen Bauernverbands von Odessa ist die wirklich gefährliche Phase derweil noch gar nicht erreicht. "Von meinen 4.300 Mitgliedern gibt es viele, die in diesem Jahr gar nicht mehr aussäen werden, weil sie keinen Sinn mehr darin sehen. Und nach allem, was ich von meinen Kollegen aus anderen Regionen höre, ist es dort nicht viel anders", sagt Wolodymyr Warbanez. Was die unmittelbare Zukunft angeht, fällt das Urteil des 72-Jährigen, eines gelernten Ingenieurs, der fast sein gesamtes Leben in der Landwirtschaft gearbeitet hat und seit 15 Jahren in seiner heutigen Funktion dient, eindeutig aus: "Wenn alles so bleibt, wie es ist, halten die meisten noch ein halbes Jahr durch. Wenn es gut geht, vielleicht ein Jahr. Aber sicher nicht länger."

"Krieg so schnell wie möglich gewinnen"

Gegenüber dem Getreidedeal von Istanbul teilt Warbanez die Skepsis des Großbauern Newmertschynsky und des Händlers Mikola. "Ich sehe kein anderes Szenario für eine bessere Zukunft als das, dass wir den Krieg so schnell wie möglich gewinnen."

Nicht, dass es nicht schon vor dem Krieg Probleme gegeben hätte. Warbanez' eigener Hof liegt in Baranowe, einem Dorf rund 70 Kilometer nördlich von Odessa. "Ich habe sechs Traktoren. Es wird von Jahr zu Jahr schwerer, Mechaniker zu finden, die sie reparieren können, wenn mal etwas kaputtgeht. Einen neuen Mähdrescher könnte ich auch dringend brauchen." Der Krieg habe eine ohnehin nicht leichte Situation noch verschlimmert. "Es ist wie wahrscheinlich überall in Europa. Von den jungen Leuten will keiner mehr Bauer sein. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Ich habe einen Sohn und eine Tochter – und die haben beide kein Interesse an der Arbeit. Die wollen lieber Geschäftsleute in der Stadt sein. Aber die Leute müssen kapieren, dass der Profit, den wir ukrainischen Bauern machen, ein Profit ist, der am Ende dem ganzen Land zugutekommt. Und wenn wir den verlieren, wird am Ende die ganze Welt verlieren." (Klaus Stimeder aus Odessa, 7.8.2022)