Das Körperspiel von Darsteller Aris Servetalis ist ein Highlight.

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Im Radio wird über gehäufte Fälle von plötzlich eintretendem Gedächtnisverlust berichtet. Der bärtige Protagonist in Christos Nikous Film Apples sitzt regungslos auf dem Sofa, als er davon hört, wenig später ist auch er ein Amnesie-Fall. Als er an der Endstation einer Buslinie aufgeweckt wird, weiß er weder, wo er hinwill, noch, wo er herkommt. Auch an seinen Namen kann er sich nicht erinnern, Papiere hat er keine dabei. Im Krankenhaus wird der Unidentifizierte als Nr. 14842 geführt. Niemand fragt nach ihm, niemand scheint ihn zu vermissen. Doch vielleicht haben seine Angehörigen und Freunde ihn nicht nur vergessen, sondern "vergessen"? Wenigstens ein Identitätsfragment ist dem etwas mönchisch wirkenden Mann geblieben: Er isst gerne Äpfel. Orangen weniger.

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Das Programm "Neue Identität" der "Abteilung für gestörte Erinnerung" soll Betroffenen bei der Wiedereingliederung helfen. Der Apfelesser wird in eine Wohnung gebracht, wo er unter dem Namen Aris ein neues Leben beginnt. Über ein Tonband, das er täglich in seinem Briefkasten vorfindet, werden ihm Aufgaben gestellt: Fahrrad fahren, ins Kino gehen, einen Stripclub besuchen. Er soll anderen Menschen nahekommen, ein Flirt schade nicht. Nachweise sind in Form von Polaroidfotos zu erbringen.

Leidenschaftslos durch Athen

Aris führt die erforderlichen Leistungen mit einer an Apathie grenzenden Leidenschaftslosigkeit aus. Auf seinen Wegen durch ein graues, wolkenverhangenes Athen begegnet er anderen Menschen bei der Ausführung und Dokumentation der genau gleichen Aufgaben. Zum Beispiel Anna, die sich anders als er beim Film Texas Chain Massacre schwer gruselt. Anna hat ein nahezu identisches Polaroid-Album in ihrem Regal stehen, ist Aris aber eine Stufe des Programms voraus.

Das Verhältnis der beiden bewegt sich im ambivalenten Bereich zwischen beginnender Freundschaft (vielleicht auch mehr) und reiner Zweckgemeinschaft. Tatsächlich stellen sich die Dinge, die er mit ihr zusammen erlebt – "spontaner" Sex auf der Toilette einer Bar –, alle als seine zukünftigen Aufgaben heraus.

Christos Nikou hat bei Yorgos Lanthimos’ Dogtooth als Regieassistent gearbeitet. Dessen Vorliebe für Versuchsanordnungen, Lebensskripte und "unwahrhaftige" Beziehungen haben in Nikous Debut deutliche Spuren hinterlassen. Auch das blutleere Spiel und der surreale Humor sind Attribute einer bestimmten Ausformung des "neuen griechischen Kinos". Apples ist jedoch deutlich vager angelegt als die Arbeiten von Lanthimos, auch menschenfreundlicher, weniger garstig. Hinter Aris’ Auftreten finden sich Anzeichen von Melancholie und aufrichtiger Trauer – und eine Einsamkeit, die mehr als Erinnerungsverlust ahnen lässt. Dass die Geschichte in zirkulären Bewegungen und repetitiven Mustern fortschreitet, entfaltet ganz eigenen Charme.

Patina des Analogen

Nikou siedelt Apples in einer analogen Gegenwart an. Die allgegenwärtigen Tonbänder erinnern an Spionagefilme aus dem Kalten Krieg. Auch die Polaroids, die das gedrängte 4:3-Format des Films aufnehmen, haben Patina – und spielen gleichzeitig mit Selbstvergewisserungseffekten der Selfie-Kultur.

Apples wird zu großen Teilen von dem dezenten Körperspiel des Darstellers Aris Servetalis getragen. Man schaut ihm auch bei der Verrichtung der banalsten Tätigkeiten gerne zu und freut sich, wenn aus seinen Handlungen ein Funke Lebendigkeit spricht. Lernt er schnell, oder meldet sich seine Körpererinnerung zurück? Sein Tanz zu Let’s Twist Again ist so oder so hinreißend. (Esther Buss, 6.8.2022)