Medientheoretiker und Autor Stephan Doesinger fragt sich in seinem Gastkommentar, wann "Social-Media-Unternehmen spürbar reguliert werden".
Im französischen Comic Streit um Asterix kommen die Römer auf die Idee, die Einigkeit der unbeugsamen Gallier zu torpedieren. Dazu bestellen sie einen Spezialisten mit dem Namen Destructivus, der es schafft, überall Streit und Zwietracht zu säen. Je giftiger die Sprache wird, desto grüner färben sich die Sprechblasen in dem Comic.
Klima der Erregung
In unserem alltäglichen Leben entstehen diese giftigen Sprechblasen nicht durch Comicfiguren, sondern durch Algorithmen. Die Algorithmen von Plattformen wie Telegram, Twitter oder Facebook wirken dabei auf die Sprache wie das Ozon auf die Atmosphäre. Sie schaffen ein Treibhaus für polarisierende Meinungen, die zu mehr "User-Engagement" und damit zu mehr Werbeeinnahmen führen. Eine Tatsache, die nicht nur Frances Haugen, die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin und Whistleblowerin, mit Beweisen untermauerte.
Die Erregungsthemen sind beliebig austauschbar. Heiße Verschwörungstheorien strömen ungehindert auf sonst kühle Gemüter. Schließlich entstehen globale Shitstorms im ungetrübten Himmel von liberalen Demokratien, die es verabsäumt haben, der Meinungsfreiheit auch die Meinungsverantwortung entgegenzustellen. Entdeckt der Algorithmus ein Erregungsthema, beginnt sich die Hassspirale erneut zu drehen. Auf jede Lüge folgt eine neue, auf jede Desinformation ein neues Gerücht. Das Ergebnis: eine zerrissene Gesellschaft ohne innere Bindekräfte.
Jeder und jede betroffen
Die Desinformationskrise hat ein gesellschaftliches Trauma hinterlassen, das bis dato kaum aufgearbeitet wird. Zu frisch sind die Verletzungen, die die Corona-Krise hinterlassen hat. Neue Krisen lösten die alten ab. Die meisten sind erleichtert, nicht mehr über die Aggression der Corona-Leugner und Impfgegnerinnen, auch im eigenen Freundeskreis, sprechen zu müssen.
Übrig blieb nur die Angst im Auge des Shitstorms. Es ist ein Problem, das jeden und jede von uns betrifft: Je mehr man sich öffentlich exponiert, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich rund um einen selbst ein Shitstorm bildet. In dessen Zentrum steht man alleine da. Das Auge des Shitstorms ist wie die Umkehrung von Michel Foucaults Panoptikum – ein Begriff, mit dem der französische Philosoph und Historiker Überwachungs- und Kontrollmechanismen einer Gesellschaft beschreibt. Dieses Panoptikum ist heute nicht der Ausgangspunkt, sondern der Zielpunkt einer permanenten Bedrohung, ausgeübt von einer Masse, die unsichtbar bleibt.
Überwindet man diese Angst, und tritt an die Öffentlichkeit, wie es eine mutige Ärztin aus Oberösterreich tat, macht man sich noch mehr angreifbar. Lisa-Maria Kellermayr tat dies aus Notwehr, aber auch in der Überzeugung, oder wenigstens in der Hoffnung, dass die demokratische Öffentlichkeit und der Rechtsstaat ihr zu Hilfe eilen würde. Dieser Schutz blieb ihr leider versagt. Im Gegenteil. Die Polizei hatte der Ärztin Profilierungssucht unterstellt und nichts dazu beigetragen, was zu einer Identifizierung des Online-Mobs geführt hätte, obwohl dies leicht möglich gewesen wäre. Der Unwille zur Aufklärung zeigt, dass die Risse in unserer Gesellschaft tiefer gehen – mit dramatischen Konsequenzen: Letzte Woche nahm sich Kellermayr das Leben.
Als "neutrale" Datenübermittler lehnen Social-Media-Unternehmen jede Verantwortung über die giftgrünen Inhalte ab, die sie publizieren. Damit unterscheiden sie sich von allen anderen Medien, die für ihre publizierten Inhalte presserechtlich haften. Die virtuelle Gewalt der giftgrünen Sprache treibt mittlerweile auch die vierte Gewalt – die Presse – vor sich her. Im Gegensatz zu den öffentlich-rechtlichen Medien agieren zahlreiche private Medien zunehmend affirmativ, wie Zelig aus dem gleichnamigen Film von Woody Allen. Zelig ist ein Mann ohne eigenes Ich, der beim Zusammentreffen mit anderen Menschen stets deren jeweilige Identität annimmt. Chamäleonartig übernehmen populistische Medien zunehmend Themen aus zweifelhaften Telegram- und Facebook-Gruppen in der Hoffnung auf "Online-Relevanz". Doch der Wettlauf um die Vorherrschaft über die Volksstimme ist längst verloren. Längst haben unsichtbare Algorithmen die Deutungshoheit übernommen.
Appeasement, Wegducken?
Die Konsequenzen sind entweder Appeasement oder Wegducken. Nicht selten hörte man von Sportlern und anderen Prominenten, dass der Impfstatus Privatangelegenheit sei. Da Pandemien aber niemals nur Privatangelegenheiten sind, war die "Fairness-Geste" dieser Multiplikatoren immer schon falsch – und feige. Gleichzeitig duckten sich Unternehmen vor ihrer gesellschaftlichen Verantwortung weg. Die Angst, impfskeptische Kunden zu verprellen, Shitstorms zu ernten oder verblendete Mitarbeiterinnen zu verlieren, überwog. Ihre Kommunikationsdevise lautete: "Wir halten uns raus, weil wir nicht zur Spaltung der Gesellschaft beitragen wollen." Genau diese Selbstzensur machte sie aber mitverantwortlich für den Erfolg der virtuellen Gewalt. Ganz im Sinne des britischen Philosophen John Stuart Mill nämlich muss man das fehlende Bekenntnis für die Interessen der solidarischen Mehrheit als Verrat am Gemeinwohl betrachten.
Was lernen wir daraus? Das "Experiment Social Media", das unkontrolliert im Systemordner unserer Gesellschaft operiert, muss man als gescheitert betrachten. Die giftgrüne Sprache ist keine "Meinungsfreiheit", sondern digital organisierter Terror. Wann also werden Social-Media-Unternehmen spürbar reguliert und endlich dazu verpflichtet, ihren Code transparent zu machen? (Stephan Doesinger, 7.8.2022)