AI-Generalsekretärin Agnes Callamard bezeichnete Kritikerinnen und Kritiker des Berichts pauschal als "Mob" oder "Trolle".

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Panzer der britischen Armee, die durch Notting Hill rollen. Flugabwehrkanonen des Heimatschutzes auf den Dächern von Kensington. Kampfflieger der Royal Air Force, die von Biggin Hill aufsteigen. Wer Ende der Woche in der Ukraine den "Trending Topics" in den sozialen Medien folgte, stieß dabei regelmäßig auf historische Bilder, die in London in den Jahren des Zweiten Weltkriegs aufgenommen wurden. Warum das, was sie zeigen, dieser Tage in dem Land, das seit 24. Februar einen Abwehrkampf gegen Russland führt, eine neue Relevanz erfährt, liegt für jene Userinnen und User, die sie posten, auf der Hand.

Am Donnerstag veröffentlichte Amnesty International (AI) einen Bericht, in dem die Menschenrechtsorganisation der Ukraine vorwirft, mit der Art ihrer Kriegsführung humanitäres Völkerrecht zu verletzen. Hauptkritikpunkt der Chefermittlerin Donatella Povera und ihrer Mitarbeiter: die Stationierung von Truppen in dicht besiedelten Wohngebieten. Mit der Praxis, unter anderem Schulen und Spitäler in informelle Militärbasen zu verwandeln, würden die ukrainischen Landstreitkräfte die eigenen Bürgerinnen und Bürger gefährden. Laut dem Bericht wiege der Vorwurf umso schwerer, als es Alternativen dazu gäbe, die die kommandierenden Offiziere aber nicht wahrnehmen würden.

Empörung

Seit seiner Veröffentlichung schlagen die Untersuchungsergebnisse der Menschenrechtsorganisation zwischen Lwiw, Kiew, Charkiw und Odessa hohe Wellen. Allen voran in den sozialen Medien. Während der Report für den Kreml und seine Handlanger im In- und Ausland, die sich in den Dienst seiner digitalen Propaganda stellen, ein gefundenes Fressen darstellt, zeigt sich in der Ukraine von der Regierung und der Militärführung abwärts praktisch alles und jeder empört, der oder die die Souveränität des Landes intakt sehen will.

Was die inhaltliche Qualität der Angriffe auf AI angeht, zeigt sich indes eine beachtliche Bandbreite. Die Palette an Userkommentaren auf Twitter, Facebook und Co. reichen vom Vorwurf mangelnder Ortskenntnisse und Ahnungslosigkeit in punkto militärische Taktik über neokoloniale Maßstäbe, die die Ermittler in dem Bericht anlegen würden bis zur Brandmarkung als "neofaschistische Organisation", die im Dienste Putins agiere. Am Freitagabend trat die Leiterin des Ukraine-Büros von AI, Oksana Pokaltschuk, zurück. Sie beschuldigte Amnesty, russische Propaganda zu übernehmen.

Gleichwohl viele Ukrainer in ihrer Wut bisweilen die Grenzen einer geschmackvollen Debatte überschreiten – persönliche Angriffe auf die Ermittler inklusive – stellt sich angesichts der Situation im analogen Raum dennoch die Frage, wie berechtigt manche Kritik ist.

Unrealistische Ratschläge

Einerseits stellen sich in diesem Zusammenhang gänzlich praktische Fragen. Wie hinlänglichst belegt, sehen sich die ukrainischen Streitkräfte seit dem Beginn der Invasion am 24. Februar einem Gegner gegenüber, der sich grosso modo an keinerlei Spielregeln hält, was die Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen angeht. Den Ratschlägen einer internationalen Menschenrechtsorganisation zu folgen, was die Platzierung ihrer Einheiten angeht, erscheint angesichts dieser Situation vielleicht wünschenswert, aber unrealistisch.

Beim Rest der Vorwürfe wird es schon komplizierter. Was die Kritik vieler Ukrainer betrifft, dass es sich bei dem Bericht um ein von neokolonialer Attitüde durchdrungenes Machwerk handle – eine Argumentation, der etwa Kommentatoren wie der LGBTIQ-Aktivist, Blogger und Podcast-Gastgeber Maksym Eristavi folgen – ist diese freilich nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Wut, mit der Leute wie Eristavi dem AI-Bericht auf ihren Social Media-Kanälen begegnen, liegt in der Geschichte des Paternalismus, der Ignoranz und der Gleichgültigkeit begründet, mit der der Westen – im speziellen Westeuropa – der Ukraine spätestens seit dem russischen Überfall auf die Krim und den Donbass 2014 begegnete und bisweilen bis heute begegnet.

Die Tatsache, dass in westlichen Medien bis heute vermeintliche Experten aus Politik und der akademischen Welt Talkshows bevölkern, die in der Regel unwidersprochen die "alternativen Fakten" des Kreml verbreiten, wird besonders bei der jungen, gebildeten Elite des Landes von jeher intensiver wahrgenommen, als deren Produzenten gewahr ist. Es ist dieser Kontext, in dem die Rezeption des AI-Bericht in der Ukraine stattfindet und eben dort für entsprechende (Über-) Reaktionen sorgt, wo solche Debatten heute geführt werden: in den sozialen Medien.

Moralische Überlegenheit

Was den Vorwurf jener Fraktion angeht, die in AI jetzt ein Werkzeug des russischen Regimes sehen: So lächerlich die Einordnung der Organisation als Büttel der Putin-Diktatur erscheint, müssen ihre Repräsentanten dennoch anerkennen, dass ihre Arbeit nicht in dem luftleeren Raum geschieht, innerhalb dessen sie vorgibt ihre Arbeit zu machen. Die pauschale Beschimpfung kritischer User durch AI-Generalsekretärin Agnes Callamard ("Mob", "Trolle") spricht Bände über das Selbstbild nicht nur ihrer, sondern aller westlich dominierter Menschenrechtsorganisationen, die keine Gelegenheit auslassen, ihre vorgeblich moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen.

Entsprechend offenbaren die Reaktionen auf den AI-Bericht in der Ukraine allem voran eines: die Grenzen der Arbeit im Dienst der Menschenrechte, deren Exponenten ungeachtet der Machtverhältnisse am Boden und des politischen Charakters der sich bekämpfenden Systeme auf einen "sauberen" Krieg um jeden Preis bestehen, in dem an Invasoren wie Überfallene die gleichen Maßstäbe angelegt werden. Die Archivbilder aus London aus der Zeit des Blitzkriegs, die die allzu offensichtlichen historischen Parallelen zur heutigen Situation ziehen, bilden insofern vielleicht keine Rechtfertigung, aber zumindest eine Erklärung dafür, wie diese an den Tag gelegte Form der Überparteilichkeit in der Ukraine ankommt. (Klaus Stimeder aus Odessa, 6.8.2022)