Ob sich die US-amerikanische Demokratie als stark genug erweisen wird, um Instabilität wie beim Putschversuch vom 6. Jänner zu verhindern, wird aufgrund ihrer globalen Supermachtstellung planetare Konsequenzen haben, sagt der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer im Gastkommentar.

Trainieren für den Ernstfall: Militärs weisen bei einer Zivilschutzübung Einwohnerinnen und Einwohner von Taipeh ein.
Foto: APA / AFP / Sam Yeh

Ich kann mich an keine Zeit während der vergangenen 75 Jahre erinnern, in der es zu einer der heutigen Lage entsprechenden Kumulation großer und kleiner Krisen gekommen ist, wie wir sie gerade jetzt erleben. Von der Klimakrise, der Pandemie, kaum noch für möglich gehaltenen großen Kriegen, Inflation, Unterbrechungen des Welthandels und der Lieferketten, die Gefährdung der Welternährung bis zur Energiekrise. Diese sich häufenden Turbulenzen gehen nur allzu oft auf die erneute Rivalität der globalen Großmächte zurück.

Die Rückkehr der Herrschaft globaler Großmächte hat sichtbare und spürbare chaotische Folgen bis hin zur offenen militärischen Aggression und zur Rückkehr großer Kriege, wie derjenige Russlands in der Ukraine. Man muss keineswegs ein Untergangsprophet sein, um zu prognostizieren, dass es wohl leider nicht bei dem Krieg in der Ukraine und Europa bleiben wird. In Ostasien droht der Konflikt um Taiwan ebenfalls militärisch zu eskalieren. Und im Nahen und Mittleren Osten besteht die Gefahr, dass das iranische Atomprogramm perspektivisch einen großen militärischen Konflikt auslöst.

Woher kommt dieser manifeste globale Ordnungsverlust? Es sind dies die Folgen der Ablösung einer über 70 Jahre die Welt bestimmenden Ordnung namens Pax Americana. Die USA sind als Sieger aus den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen, haben auch den daran anschließenden Kalten Krieg gewonnen und waren der entscheidende Garant für das Wiedererstehen eines völlig zerstörten Europas und damit des transatlantischen Westens. Es war auch die Zeit der Dekolonisierung gewesen und die Jahrzehnte der Herausbildung des Multilateralismus sowie des Völkerrechts unter dem Dach der Vereinten Nationen – geschützt durch diese Pax Americana.

Naivität des Westens

Zudem befindet sich die Weltwirtschaft in einem fundamentalen technologischen Wandel – der Digitalisierung auf einer höheren Stufe. Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen erzwingen einen radikalen Umbau der global führenden Industriegesellschaften. Das wird die machtpolitischen Gewichte global neu austarieren.

Und jetzt? Jetzt wird diese Ordnung, die alles andere als perfekt war und innerhalb derer es massive Unterschiede zwischen Gewinnern und Verlierern gab, abgelöst durch chaotische Verhältnisse.

Die Finanzkrise von 2008 markiert zeitlich den Anfang dieses Prozesses. Die ökonomisch begründeten, fatalen Illusionen über die europäische Energiepartnerschaft mit Russland und das transatlantische Vertrauen auf die erhoffte Demokratisierung des riesigen Chinas mit seinen 1,5 Milliarden Menschen. In beiden Fällen haben sowohl die USA als auch Europa die strategisch-historischen Absichten und Ziele der Führungen in Moskau und Peking nicht ernst genommen und die machtpolitischen Konsequenzen der damit einhergehenden wirtschaftlichen Abhängigkeiten ignoriert. Der Preis für diese Naivität wird in der Gegenwart und näheren Zukunft entrichtet, und er wird hoch sein.

Mit China ist dem Westen und vor allem den USA ein technologisch ebenbürtiger Rivale erwachsen, welcher die Sowjetunion selbst zum Höhepunkt des "Sputnik-Schocks" niemals gewesen ist. Die damit eingeleitete neue Phase der globalen Systemkonkurrenz ist in ihrem Ergebnis alles andere als entschieden. China wird sich als die sehr viel härtere Nuss für den Westen erweisen.

Zumal diese Konkurrenz unter völlig neuen globalen Bedingungen ausgetragen werden muss: Pandemie und globaler Klimawandel haben die elementaren Gleichungen der Weltwirtschaft wie der internationalen Machtpolitik grundlegend verändert und werden dies in Zukunft noch sehr viel mehr tun. Gelingt es der Menschheit nicht, innerhalb weniger Jahre den globalen Temperaturanstieg zu begrenzen und so eine globale Hochtemperaturzukunft zu verhindern, dann wird sich die Menschheit – und nicht mehr nur einzelne Gesellschaften – in eine nicht mehr zu revidierende globale Krise stürzen.

Phase der Konfrontation

In einer Phase globalen Chaos werden sich die wichtigsten internationalen Akteure aber nicht in die Richtung globaler Zusammenarbeit bewegen, die dringend notwendig wäre, sondern ganz im Gegenteil in Richtung verstärkter Konfrontation. Darin besteht, neben den Zerstörungen und dem unsäglichen menschlichen Leid und der Vergeudung von dringend benötigten Ressourcen, die eigentliche Tragödie von Wladimir Putins Krieg. Er kostet die Menschheit eigentlich nicht mehr vorhandene Zeit im Kampf gegen die Erderwärmung.

Eine letzte Krise sei hier noch erwähnt. Was wird in näherer Zukunft aus der globalen Führungsmacht USA werden, die sich in all diesem sich abzeichnenden Chaos von Konflikten und Krisen eine innere Instabilität und Gefährdung ihrer Demokratie erlauben? Am 6. Jänner 2021 hat ein durch den abgewählten Präsidenten Donald Trump initiierter Putschversuch mit dem Sturm auf das Kapitol in Washington, D.C., stattgefunden. Wird sich die US-amerikanische Demokratie als stark genug erweisen, Vergleichbares zu verhindern? Oder wird Trump oder ein Wiedergänger von ihm bei den nächsten Präsidentschaftswahlen erneut erfolgreich antreten?

Diese Frage wird sich in den kommenden Jahren nicht nur für die USA und ihre Demokratie als die entscheidende erweisen, sondern auch für deren Alliierte rund um den Globus – ja für die Zukunft der Erde insgesamt. Es wird dies wohl die erste demokratische Wahl mit planetaren Konsequenzen sein. Und es kommt nicht von ungefähr, dass diese Entscheidung in der weltweit ältesten Demokratie und globalen Supermacht USA getroffen werden wird. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 8.8.2022)