Weil das Wohl der Kinder gefährdet ist, wurden sogenannte Gefährdungsmeldungen an die Bundesländer Wien, Steiermark und Salzburg geschickt.

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Fast zwei Jahre arbeitete die Wiener Sozialarbeiterin Marina H.* an ihrem wohl schwierigsten Familienfall: Der Vater war nicht da, die Mutter konnte sich nicht um ihre Tochter kümmern. Jedes Mal, wenn die Oma helfen wollte, packte die Mutter die Eifersucht. Sie wurde psychotisch. Marinas Aufgabe war es abzuklären, ob die Achtjährige bei ihrer Mutter noch sicher war. "Die Tochter wurde zunehmend in die Wahnvorstellungen miteinbezogen." Marina musste eingreifen.

Fünf Jahre sind seither vergangen. Rückblickend ist Marina froh. Ihr ist es gelungen, den Wunsch des Mädchens und der Familie zu erfüllen: dass es bei der Oma aufwächst. Das war nur mit Unterstützung des Gerichts und Marinas permanentem Einsatz, neben dutzenden weiteren Krisenfällen, möglich. Kurze Zeit später kündigte sie.

Ein Einzelfall ist Marina mit diesem Entschluss nicht. Gerade im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist die Mitarbeiterfluktuation österreichweit seit jeher hoch. Doch während die Zahl der von der Kinder- und Jugendhilfe betreuten Kinder laut Statistik Austria seit 2020 um acht Prozent auf 41.726 gestiegen ist, hat der Personalengpass eine neue Dimension erreicht. Krisenzentren, also temporäre Schutzräume für gefährdete Kinder, mussten schließen oder einen Aufnahmestopp verhängen – ihnen gehen die Fachkräfte aus.

Gefährlicher Mangel

Der Dachverband österreichischer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen (DÖJ) und die Kinder- und Jugendanwaltschaft haben daher Anfang August Alarm geschlagen. Sie schickten Gefährdungsmeldungen an die öffentlichen Träger, in dem Fall an die Länder Salzburg, Steiermark und Wien, wo die Lage laut DÖJ am prekärsten ist. Der Tenor: Ausgerechnet dort, wo Kinder Zuflucht finden müssten, sei deren Schutz nicht mehr gewährleistet.

In Wien bedeutet das laut Kinder- und Jugendanwaltschaft "Matratzen auf dem Boden, einen eklatanten Mangel an Platz, keine Privatsphäre und Kleinkinder neben psychiatrisch auffälligen Kindern oder delinquenten Jugendlichen". Zwei von 16 Krisenzentren sind derzeit in Wien nicht im Betrieb, 40 Stellen unbesetzt. "Da fragt man sich, was mit diesen Kindern geschieht", sagt DÖJ-Obmann Gerald Herowitsch-Trinkl im Gespräch mit dem STANDARD. Ändert sich nichts, könnten noch mehr Gruppenschließungen folgen, fürchtet er. Denn das verbliebene Personal sei nach zwei Jahren Pandemie von überbordenden Fallzahlen ausgebrannt.

Auf die Zustände angesprochen, sagt die Sprecherin der Wiener Kinder- und Jugendhilfe, Andrea Friemel, dass "in Wien jedes Kind einen Platz bekommt". Zwar seien die bestehenden Krisenzentren mitunter überbelegt, "das heißt aber nicht, dass es zu einer Mangel- oder Unterversorgung kommt". Dass Kinder auf Matratzen liegen müssten, stimme jedenfalls nicht, behauptet Friemel. Mittels Studienabsolventinnen und Wiederöffnung eines Krisenzentrums im August soll die Situation jedenfalls entschärft werden. Außerdem werde an Arbeitszeitmodellen gefeilt, um mehr Leute für den Beruf zu gewinnen.

Fehlende Sinnhaftigkeit

Für Marina hätte das wohl nicht gereicht: Weil die Tochter zur Oma in einen anderen Bezirk übersiedelte, musste sie den Fall abgeben. So sieht es die Wiener Regelung vor. "Ich musste so oft Beschimpfungen der Mutter über mich ergehen lassen", schildert Marina die zähe Beziehungsarbeit, die ihre Arbeit mit sich bringt. "Und danach wird einem der eigene Erfolg genommen und stattdessen die nächsten Krisen zugeteilt." Und von diesen hätte sie nicht genug übernehmen können: "Wir mussten uns ständig gegenüber den Vorgesetzten rechtfertigen, nicht noch mehr Fälle anzunehmen." Eigentlich liegt die Empfehlung bei 25 Fällen pro Sozialarbeiterin, das sei jedoch "ein frommer Wunsch", sagt Marina.

Ihre Ex-Kolleginnen würden derzeit 60 Fälle und mehr bearbeiten. Auch in der Steiermark sind solche Fallzahlen gang und gäbe, berichten Sozialarbeiterinnen. "Dabei ist das eine Rundumbetreuung", sagt Herowitsch-Trinkl. Menschen würden nur dann im Beruf bleiben, wenn sie eine Sinnhaftigkeit in ihrer Arbeit sehen. "Wenn man aber nur mehr Notdienst verrichtet, dann tut man sich das nicht an."

Mehr Studienplätze

Was aber braucht es? Laut DÖJ müssten schleunigst die Studienplätze aufgestockt werden. Kurzfristig führe kein Weg an Quereinsteigern, die zeitgleich eine Ausbildung beginnen, vorbei. Mehr Studienplätze fordert auch Marco Uhl vom Berufsverband der sozialen Arbeit. Und: "Bei den freien Trägern erfolgt die Gehaltseinstufung auf niedrigstem Niveau." Auch bei der Bezahlung gehöre daher nachgebessert. Um Menschen zu behalten, müsse aber letztlich die Belastung abnehmen. Qualitätsstandards könnten sonst nur schwer eingehalten werden, findet Marina. Dem Auftrag des Kinderschutzes konnte sie in ihren Augen nicht mehr nachkommen. (Elisa Tomaselli, 8.8.2022)