Bild nicht mehr verfügbar.

Oft gehe es im Streit um eine alte Verletzung, die den Konflikt immer weiter am Köcheln hält.
Foto: getty images

Man diskutiert über die Milch, die der oder die andere beim Einkaufen vergessen hat – und kommt plötzlich zu so einem großen Thema wie dem Heiraten oder Kinderkriegen. Das ist in Beziehungen ein häufiges Muster, und da rauszukommen, ist extrem schwer. Woran liegt es eigentlich, dass man beim Streiten oft nicht beim Thema bleibt? Und wie schaffen es Paare, ihre immer wieder gleichen Themen endlich hinter sich zu lassen?

Das haben wir die Paartherapeuten Sabine und Roland Bösel gefragt. Ein Interview über alte Verletzungen, Machtkämpfe in Beziehungen, schlechtes Timing – und darüber, wie es gelingen kann, wieder ein Team zu werden.

STANDARD: Warum schleichen sich in Beziehungen die immer gleichen Streitereien ein, ohne dass es jemals eine Lösung dafür gibt?

Roland Bösel: Oft geht es um eine alte Verletzung, die den Konflikt immer weiter am Köcheln hält. Im Streit kommt hoch, was damals war – zum Beispiel, dass einer gesagt hat, er möchte nicht heiraten. Es ist wie ein Faustpfand, das man gegeneinander in der Hand hat. Man hält es immer weiter fest, es löst sich nicht. Der Grund dafür: Sich den Konflikt genauer anzuschauen und nach einer Lösung zu suchen ist eine viel größere Herausforderung als es sein zu lassen. Leiden ist leichter als lösen, heißt es deshalb.

Sabine Bösel: Wir bitten Paare deshalb, uns ihr typisches Streitthema zu nennen – und wir schauen, ob wir es anders lösen können. Denn darum geht es schlussendlich: Man muss auf eine andere Ebene gehen, um den Konflikt zu lösen. Man muss sagen: "Stopp, halt, jetzt machen wir etwas anders!" Beide sind so verbohrt, beharren auf ihren Standpunkten und sind überhaupt nicht mehr kreativ. Wichtig ist dann zu schauen, wieso man so verbohrt ist. Dahinter kann auch eine Geschichte aus der Kindheit stecken, die jemand bis heute in sich mitträgt. Wenn man da draufkommt, macht ein Verhalten oft plötzlich Sinn.

STANDARD: Geschichten aus der Kindheit sollen für unser späteres Liebesleben verantwortlich sein?

S. Bösel: Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Mein Mann und ich hatten so ein Streitthema, über Jahre. Es ging ums Geld. Ich bin eher sparsam erzogen worden, und wenn ich übers Sparen geredet habe, hat das in ihm eine Aggression ausgelöst.

R. Bösel: Wir haben richtig gestritten.

S. Bösel: Dahinter steckte, dass mir als Kind immer vermittelt wurde, dass ich Probleme bekomme, wenn ich nicht sparsam bin. Bei Roland war es wiederum so, dass sein Vater jede Idee ablehnte, mit der Begründung, die Familie müsse sparen. Das Wort war für ihn also mit einer Resignation verbunden. Wenn ich es verwendet habe, kam dieses Gefühl der Resignation sofort zurück. Aber ich wusste das lange nicht. Woher auch?

STANDARD: Bei einem befreundeten Paar war er sehr zurückhaltend mit Berührungen. Sie verletzte das, weil sie bei ihren Eltern mitbekommen hatte, dass sie sich nicht mehr berührten. Nach einer Zeit fand sie heraus, dass er es in seiner Kindheit mit Missbrauch zu tun hatte ...

R. Bösel: Das ist ein sehr gutes Beispiel. Der Mann, nennen wir ihn Peter, ist als Kind Übergriffen ausgesetzt und fühlt sich deshalb als Erwachsener unwohl, wenn er berührt wird. Die Frau, nennen wir sie Susi, hat wiederum bei ihren Eltern gesehen, dass körperliche Intimität gar nicht stattfindet, und beschließt im tiefsten Inneren: Wenn ich groß bin, finde ich jemanden, der mich berührt! Beide haben also schlechte Erfahrungen mit Körperlichkeit gemacht, ihre Konsequenz daraus ist aber eine andere. Wenn die kleine Susi sagt: Komm, lieber Peter, ich brauche deine Nähe, sagt der kleine Peter: Lieber nicht, sonst passiert mir etwas! Es sind die Kinder in ihnen, die da miteinander kämpfen.

STANDARD: Kommt man da überhaupt raus, oder trennt man sich besser?

S. Bösel: Man kann da vielleicht herauskommen, indem man schaut, was heikle Themen des anderen sind. Anstatt zu kämpfen, sollte man versuchen, darauf Rücksicht zu nehmen. Als ich erkannt habe, was das Thema Sparen beim Roland auslöst, warum das ein wunder Punkt bei ihm ist, habe ich versucht, sensibel dafür zu sein. Ich habe nicht mehr ständig dieses Wort verwendet und darauf gepocht, dass wir sparen müssen. Und ich habe mir angeschaut: Warum verhalte ich mich selbst bei dem Thema so, wie ich mich verhalte? Ich habe versucht, nicht nur das, was ich von meinen Eltern mitbekommen habe, nachzumachen – sondern mich in Großzügigkeit zu üben und zwischendurch auch zu sagen: Jetzt gönnen wir uns einmal etwas! Dass ich diesbezüglich lockerer wurde, war für mich und auch für den Roland ein großer Gewinn.

R. Bösel: Manchmal braucht es aber auch eine dritte Person, um aus dem Kreislauf herauszukommen. Da ist so viel Scham, so viel Verletzung dahinter, dass es einem allein oft nicht gelingt. Dieser Verbündete kann, aber muss nicht unbedingt ein Psychotherapeut oder eine Psychotherapeutin sein. Es kann auch eine gute Freundin, ein guter Freund oder jemand aus der Familie sein. Bei uns war es zum Beispiel meine ältere Schwester, die sich angehört hat, wieso das Thema Geld bei uns solche Streitereien auslöst. Sie hat uns beiden zugehört und uns geholfen, in eine andere Richtung zu denken.

S. Bösel: Dieser Verbündete sollte jemand sein, der nicht gleich sagt: Du musst dich trennen! Vielmehr geht es darum zu erkennen, dass man es im Grunde genommen doch gut miteinander meint. Es geht darum zu schauen: Wo kriegen wir uns immer in die Haare, und warum ist das so?

STANDARD: Wieso sind Paare oft gegeneinander, obwohl sie einander lieben? Oder anders gefragt: Warum ist man im Streit oft so böse zueinander?

S. Bösel: Das liegt daran, dass im Streit die verschreckten Tiere in uns herauskommen. Man hat dann ganz plötzlich das Gefühl, dass der oder die andere gefährlich ist und man sofort untergehen wird, wenn man sich nicht wehrt. Es handelt sich da wirklich um eine existenzielle Angst: Wenn ich dem nachgebe, bin ich ausradiert und mein Leben lang unterjocht! Da steckt eine Art Überlebensinstinkt dahinter.

Bild nicht mehr verfügbar.

Einen Konflikt zu lösen ist wichtig für eine gesunde Beziehung – aber unendlich schwierig. "Das liegt daran, dass im Streit die verschreckten Tiere in uns herauskommen", sagen Sabine und Roland Bösel.
Foto: getty images

STANDARD: Anfangs, wenn man sich kennenlernt, steht das Gemeinsame im Vordergrund. Warum kippt das?

R. Bösel: Es stört einen zuerst nichts am anderen, und später alles – das ist ganz typisch. Es liegt daran, dass in der Verliebtheit das Kritikzentrum im Gehirn ausgeschaltet ist. Man sieht am anderen nur das Gute. Irgendwann merkt man, dass das, was er sagt, vielleicht gar nicht so gescheit ist, wie man anfangs dachte. Man sieht seine oder ihre schlechten Angewohnheiten – und schafft auch selbst nicht mehr, sich nur von seiner besten Seite zu zeigen. Schon ist man mitten im Machtkampf.

S. Bösel: Es ist auch so, dass man in der größten Verliebtheit annimmt, dass der andere sich schon noch verändern wird. Dass er seine Macken ändern wird oder seine Meinungen. Das ist natürlich ein Trugschluss. Ich erinnere mich an ein Paar, bei dem sie Kinder wollte und er nicht. Er sagte: Ich habe dir damals, als wir uns kennengelernt haben, doch gesagt, dass ich keine Kinder will! Für ihn stand das im Vertrag drinnen, den sie akzeptiert hat. Aber insgeheim hat sie wohl gehofft, dass er seine Meinung schon noch ändern wird.

Die Phase der Verliebtheit ist allerdings auch ganz wichtig, weil sie einem einen Geschmack davon gibt, wie es laufen könnte, wenn diese ganzen neurotischen Verstrickungen weg wären. In der Verliebtheit zeigt sich das Potenzial einer Beziehung. Sie ist ein Geschmack davon, wie es sein könnte, wenn jeder das Beste aus sich herausholt. Diese Euphorie hilft Paaren dabei, dranzubleiben, wenn die Probleme kommen.

"In der Verliebtheit zeigt sich das Potenzial einer Beziehung. Sie ist ein Geschmack davon, wie es sein könnte, wenn jeder das Beste aus sich herausholt."

STANDARD: Wenn mein Mann und ich streiten, läuft das meistens so ab: Jeder bringt Argumente, will den anderen von seiner Position überzeugen. Warum geht es beim Streiten so oft ums Gewinnen und Verlieren?

S. Bösel: Man ist einfach so überzeugt davon, recht zu haben, und versucht, seinen Standpunkt durchzufechten. Dabei wäre es schon ein Gewinn, wenn man versucht, nur einen kleinen Schritt auf den anderen zuzugehen. Denn bereits mit einem kleinen Eingeständnis wird es um einiges leichter. Das merkt der oder die andere nämlich und bewegt sich auch.

STANDARD: Macht es wirklich glücklicher, wenn man sich bei etwas durchsetzt?

R. Bösel: Für einen Moment vielleicht, aber auf lange Sicht wird der Konflikt nur immer größer. Unsere Erfahrung ist: Wenn einer sich als Verlierer oder als Verliererin fühlt, platzt das später wie eine eitrige Wunde auf.

S. Bösel: Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Erzählungen von Sportlerinnen und Sportlern. Sie fühlen sich gut in dem Moment, in dem sie in einem Wettkampf gesiegt haben. Im Laufe ihrer Karriere sickert bei ihnen jedoch so langsam, dass, wann immer sie gewinnen, jemand anderer verliert. Das Gewinnen erzeugt bei ihnen dann kein so ein gutes Gefühl mehr wie anfangs.

Wenn es einem Paar gelingt zu sagen, "uns geht es um unser gemeinsames Leben, um die Beziehung, nicht ums Gewinnen", dann ist bereits viel geschafft.

R. Bösel: Wenn ich lerne zu verstehen, was der Standpunkt des anderen ist, kann ich etwas dazulernen. In dem Film Der Club der toten Dichter gibt es eine Szene, die das ganz gut veranschaulicht. Da steigt der Lehrer, verkörpert von Robin Williams, auf den Schreibtisch und sagt seinen Schülern, wie wichtig es ist, alles auch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das zahlt sich auch in einer Paarbeziehung aus. Wir müssen ja deshalb nicht gut finden, wie der andere die Welt sieht.

STANDARD: Welche Streittypen gibt es?

R. Bösel: Es gibt die sogenannten Maximierer, die angreifen oder flüchten. Und es gibt die Minimierer, die erstarren, sich unterwerfen oder sich zurückziehen. Auch entwicklungsgeschichtlich haben wir Menschen entweder dadurch überlebt, dass wir entweder angriffen haben oder geflüchtet sind. In Paarbeziehungen gibt es diese Muster auch. Oft ist es aber auch so, dass wir einen Elternteil kopieren – wir werden so wie der Papa ein Minimierer oder wie die Mama eine Maximiererin.

S. Bösel: Die Maximierer maximieren Energie, sind angriffig, zynisch, machen dem anderen Vorwürfe. Die Minimierer halten den Mund, wenn es heiß hergeht, sie machen sich unsichtbar, damit sie nicht anecken. Wenn es schwierig wird, schweigen sie eher und gehen dem Konflikt aus dem Weg. Manchmal sind sie auch tagelang beleidigt.

STANDARD: Was passiert, wenn die beiden aufeinandertreffen?

R. Bösel: Die beiden Streittypen reizen sich gegenseitig, und das eigentliche Streitthema gerät in den Hintergrund. Wenn ein Maximierer oder eine Maximiererin Angst hat, braucht er oder sie den Kontakt mit dem anderen. Die Minimiererin oder der Minimierer – wir sagen scherzhaft "Schildkröte" – zieht sich jedoch zurück. Der Maximierer bekommt dann noch mehr Stress und wird noch lauter, woraufhin die Minimiererin sich aus Angst noch weiter zurückzieht. Der eine ist der Meinung "Du redest nix, du schweigst nur!", und die andere "Du kannst nichts anderes, als mich zu kritisieren!".

STANDARD: Warum kommen wir beim Streit um Kleinigkeiten wie die vergessene Milch so oft auf größere Themen wie Zusammenleben, Heiraten oder Kinderkriegen? Oder das Gefühl, vom anderen nicht gesehen zu werden?

S. Bösel: Weil etwas, das sich lange in uns angestaut hat, ganz plötzlich aus uns herausbricht. Bei uns war einmal ein Paar, bei dem er sich beschwerte, dass sie die leeren Klopapierrollen nicht wegräumt. Es ging um leere Klopapierrollen! Sie kaufte zwar Klopapier ein, legte es auch nach, aber die leeren Rollen blieben dann im Klo liegen. Das ärgerte ihn, weil er daraus schloss, dass er sich um alles kümmern muss. Er hat das so empfunden.

Manches Mal liegt es aber auch am Timing, dass ein Streit sich ausweitet. Wenn ich hungrig bin, reagiere ich genervter auf eine blöde Bemerkung meines Mannes, die mich eine halbe Stunde und einen Müsliriegel später vielleicht gar nicht gestört hätte. Um über heikle Punkte zu diskutieren, sollte man deshalb einen Zeitpunkt finden, zu dem beide gut drauf sind. Auf keinen Fall sollte man zwischendurch darüber sprechen, und schon gar nicht, wenn man im Stress ist. Wenn man völlig fertig von der Arbeit nach Hause kommt, das Kind grantig ist, ergibt es überhaupt keinen Sinn, Grundsatzfragen zu besprechen.

STANDARD: Da sind wir auch schon bei der Frage, wie man richtig streitet. Gibt es da noch mehr Strategien?

S. Bösel: Ein guter Tipp ist sicher, nicht vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen. Es gilt, beim eigentlichen Thema zu bleiben. Wenn einer die Milch vergessen hat, sollte man zunächst besprechen: Was können wir tun, dass das nicht mehr passiert? Auch wenn das im ersten Moment vielleicht lächerlich klingt. Ein Streitthema kann scheinbar klein sein, aber es ist nie zu klein, um es auszureden.

"Ein Streitthema kann scheinbar klein sein, aber es ist nie zu klein, um es auszureden."

STANDARD: Und was sollte man umgekehrt beim Streiten unbedingt vermeiden?

R. Bösel: Ein herablassender Tonfall, aber auch Begriffe wie "alles", "immer" oder "nie" führen direkt zur Eskalation. Wenn sie einem doch herausrutschen, sollte man sich entschuldigen und sagen: "Lass uns wieder konstruktiv miteinander sprechen!"

S. Bösel: Ich sage zum Beispiel öfter zum Roland: "Immer polierst du deinen Heiligenschein! Immer tust du so, als wärst du der Gute!" Später nehme ich es wieder zurück und komme zurück zum Anlassfall, was deutlich besser funktioniert.

STANDARD: Ebenfalls ein Klassiker beim Streiten sind Drohungen wie: "Wenn das mit uns nicht mehr richtig funktioniert, wäre es wohl besser, wir trennen uns!"

R. Bösel: Das soll dem anderen Angst machen, ist aber wenig ratsam. Man kann schon über eine Trennung reden, aber sicher nicht im Streit. Auch das führt nur zur Eskalation.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ehrlich versuchen, sich vorzustellen, wie das für die Partnerin gewesen sein muss: Das ist der erste Schritt zur Versöhnung.
Foto: getty images

STANDARD: Um Verzeihung bitten, und das auch wirklich fühlen – wie geht das?

R. Bösel: Indem wir zuvor wirklich verstehen, wie eine Situation für unseren Partner, unsere Partnerin gewesen sein muss. Indem wir uns in die Schuhe des anderen stellen und ehrlich versuchen, uns vorzustellen, wie sich das, was wir gesagt oder getan haben, für ihn angefühlt haben muss. Auf diese Weise können wir verstehen, warum unser Verhalten verletzend war.

"Entschuldigung" wird heute regelrecht inflationär benutzt, es ist zu einer Floskel geworden. Aber um Verzeihung zu bitten hat nur dann Sinn, wenn ich sagen kann: "Es tut mir wirklich leid", es auch tatsächlich so meine und dem anderen dabei in die Augen sehe. Es funktioniert nur, wenn es echt ist. Alles Unechte oder Aufgesetzte bringt nichts. (Lisa Breit, 23.8.2022)