Zerstörung in Gaza-Stadt nach der jüngsten Eskalation zwischen Israel und der Terrorgruppe Islamischer Jihad. Sonntagabend trat eine Waffenruhe in Kraft.

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Frage: Israel griff am Freitag Gaza an, fast drei Tage gab es auf beiden Seiten heftigen Beschuss. Wie lautet die Bilanz?

Antwort: 43 Menschen wurden in nicht einmal drei Tagen getötet, alle davon im Gazastreifen. Israel war zwar massivem Raketenbeschuss durch Terrorgruppen in Gaza ausgesetzt, der Abwehrschild Iron Dome konnte aber 97 Prozent der Geschütze abwehren. Die einzigen Todesopfer, die auf das Konto von Terrorgruppen in Gaza gehen, gab es im Gazastreifen selbst: Bei fehlgeleiteten Raketen, die in dichtbesiedeltem Wohngebiet im Norden eingeschlagen waren, fanden mehrere Zivilisten, darunter auch Kinder, den Tod. Im Gazastreifen macht man dafür Israel verantwortlich.

Frage: Was ist die Vorgeschichte?

Antwort: Dem Einsatz war eine ungewöhnlich lange Ruhephase vorausgegangen. Die im Gazastreifen regierende Hamas hatte sich in den vergangenen 15 Monaten ungewohnt friedlich gezeigt. Es gab praktisch keinen Raketenbeschuss und keine Brandattacken auf israelische Felder. Mitgeholfen haben dabei wohl zwei Faktoren: Herbe Materialschäden infolge des letzten militärischen Konflikts im Mai 2021, von denen sich der militärische Flügel der Hamas erst erholen muss. Aber auch die Tatsache, dass Israels Regierung seither eine große Zahl von Arbeitskräften aus Gaza ins Land gelassen hat und diese Quote demnächst um weitere 5.000 Personen erhöhen will. Für den Gazastreifen, der einer strengen Blockade durch Israel und Ägypten unterliegt, sind das wichtige Einnahmen. So lässt sich erklären, warum die Hamas in der aktuellen Eskalation so passiv war: Keine einzige der rund 800 abgeschossenen Raketen kam von Hamas-Truppen, alle waren der wesentlich kleineren Terrorgruppe Palästinensischer Islamischer Jihad (PIJ) zuzurechnen.

Frage: Warum aber kam es ausgerechnet jetzt zur Eskalation?

Antwort: Die Festnahme eines hochrangigen PIJ-Führers im von Israel besetzten Westjordanland hatte die Terrorgruppe PIJ in Gaza konkrete Rachepläne schmieden lassen. Israelische Geheimdienste lieferten eindeutige Hinweise auf eine drohende Attacke auf grenznahes israelisches Gebiet. Die Regierung verhängte daher einen De-facto-Lockdown nahe der Grenze, Straßen und Bahnstrecken waren gesperrt. Da man diesen Zustand nicht länger aufrechterhalten konnte, ein Ende des Lockdowns aber Menschenleben gefährdet hätte, entschloss sich die Armeeführung am Freitag zum Präventivschlag gegen militärische Infrastruktur. Israel hätte sich von der im Gazastreifen regierenden Hamas erwartet, dass sie die viel kleinere Terrororganisation PIJ in Schach hält, um die von Israel zugesagte Grenzöffnung für 5.000 Arbeitskräfte aus Gaza nicht zu gefährden. "Das ist eine Art ungeschriebene Vereinbarung, doch die Hamas hat sich nicht daran gehalten", sagt Michael Milstein, Forscher am Mosche-Dayan-Zentrum für Nahoststudien, dem STANDARD.

Frage: War der Einsatz aus israelischer Sicht erfolgreich?

Antwort: Das ist umstritten. Der Armee ging es einerseits darum, drohende Attacken auf israelisches Gebiet zu verhindern, andererseits um ein starkes Signal, dass militärische Antworten des PIJ auf Israels Vorgehen im Westjordanland inakzeptabel sind. Anders formuliert: Man wollte die Achse zwischen PIJ in Gaza und den PIJ-Terrorstrukturen im Westjordanland schwächen. Laut Armee ist das gelungen. Die Tötung der zwei wichtigsten Kommandanten in Gaza wird als taktischer Erfolg gewertet.

Frage: Wird die Waffenruhe halten?

Antwort: Aus strategischer Sicht sei die Operation ungünstig verlaufen, analysiert Milstein. "Der Einsatz hatte ein offenes Ende", sagt er. Die Gefahr sei groß, dass es bald zu einer neuerlichen Eskalation kommt. Dass es demnächst neue Gewaltausbrüche geben könnte, hält auch Tamir Heyman für möglich. Der Militärstratege, der bis vor kurzem Leiter des israelischen Militärgeheimdienstes war, bezeichnet "die nächsten Tage als entscheidend". Sollte PIJ auf die Freilassung des im Westjordanland festgenommenen Kommandanten bestehen, worauf Israel unmöglich eingehen kann, dann wird die Waffenruhe von kurzer Dauer sein. Milstein hält es sogar für denkbar, dass der aktuelle Zeitpunkt den "Beginn einer längeren Gewaltspirale" markieren könnte. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 8.8.2022)