Die Sorge bezüglich eines atomaren Notfalls in der Ostukraine wächst. Zweimal stand Europas größtes Kernkraftwerk in der umkämpften Region Saporischschja am Wochenende unter Beschuss, unter anderem wurde ein Trockenlager für abgebrannte Brennelemente beschädigt. Beide Seiten machten einander für die Angriffe auf die seit März von russischen Truppen kontrollierte Anlage verantwortlich.

Seit kurz nach Kriegsbeginn kontrolliert Russland das Atomkraftwerk bei Saporischschja. In den letzten Tagen spitzte sich die Lage weiter zu.
EPA/RUSSIAN EMERGENCIES MINISTRY HANDOUT

Laut dem ständigen Vertreter der Ukraine bei den internationalen Organisationen in Wien, Jewhenij Zymbaljuk, hätte ein Reaktorunfall auf dem Gelände schwerere Folgen als diejenigen in Tschernobyl oder Fukushima. Die Präsenz von Soldaten ohne technische Kenntnisse erhöhe das Risiko. Er schloss sich am Montag deshalb der Forderung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) an, einer Gruppe von Expertinnen und Experten Zugang zu dem Gelände zu gewähren.

Zymbaljuk warf Russland zudem vor, das Kraftwerk vom ukrainischen Netz trennen zu wollen. Ziel sei, Teilen der Ukraine den Zugang zu Elektrizität zu "verweigern".

"Pseudoreferenden"

Ebenfalls in der Region Saporischschja ordnete das Oberhaupt der dortigen prorussischen Verwaltung, Jewgeni Balizkij, laut TV Rain am Montag die Durchführung eines Referendums über den Anschluss der Region an Russland an. Ein genauer Termin wurde nicht genannt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte erst am Vorabend angekündigt, dass eine Durchführung der geplanten "Pseudoreferenden" in den besetzten Gebieten in der Süd- und Ostukraine für Russland ein Ende jeder "Gesprächsmöglichkeit mit der Ukraine und der freien Welt" bedeuten würde.

In ukrainischen Medien wird außerdem berichtet, man wolle die Bevölkerung in den Gebieten Saporischschja und Cherson unter anderem mit Lebensmitteln zur Wahl locken.

Drohgebärden in Richtung Georgien

Außerdem stellte Moskau die Weiterführung der Genfer Gespräche über die Sicherheitslage in Georgien infrage. Das Format soll seit 2008, als Russland in das Nachbarland einmarschierte und die Gebiete Südossetien und Abchasien abspaltete, die Stabilität im Südkaukasus sichern. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, warf nun aber dem Westen vor, die Gespräche zur "Geisel der Geopolitik" gemacht zu haben.

Bereits vergangene Woche hatte Dmitri Medwedew, der als Präsident 2008 den Einmarsch angeordnet hatte, Georgien im sozialen Netzwerk Vkontakte das Existenzrecht abgesprochen, dann aber vermeldet, sein Account sei gehackt worden. In einem Interview am Montag bezeichnete er den Überfall, der sich am Wochenende zum vierzehnten Mal jährte, als eine "richtige Entscheidung" und verglich ihn direkt mit dem Ukrainekrieg.

Mit großer Sorge ist am Abend auch eine weitere Entscheidung Moskaus zur Kenntnis genommen worden. Das Außenministerium teilte mit, die unter dem Atom-Abrüstungs- und Kontrollabkommen "New Start" vereinbarten gegenseitigen Inspektionen von Atomanlagen vorläufig auszusetzen. Begründung sind die Sanktionen, die russischen Fachleuten die Einreise in die USA quasi verunmöglichen und somit Washington einen Vorteil verschaffen würden. (tfm, mesc, 9.8.2022)