Medienexperte Golli Marboe setzt sich für einen offeneren Umgang mit psychischer Gesundheit ein.

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Wien – Thomas Kapitany sieht den Einfluss, den mediale Berichterstattung auf einzelne Personen haben kann, täglich selbst. Kapitany ist ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums, das psychotherapeutische Gespräche und Beratung anbietet. Nach der Berichterstattung zum Tod von Lisa-Maria Kellermayr bemerkt er in Gesprächen, dass sich einzelne Personen in ihrer Entscheidung zu einem Suizid bestärkt fühlen würden. Die erhöhte mediale Präsenz des Themas habe sich deutlich geäußert, sagt er im Gespräch mit dem STANDARD.

In der Berichterstattung über Hans-Jörg Jenewein war für Kapitany vor allem die detaillierte Beschreibung des Suizidversuchs problematisch. Das verletze den Anspruch auf Privatsphäre der genannten Person und kann zur Nachahmung animieren. Auch das Zitieren aus Abschiedsbriefen sollte vermieden werden. Oftmals werden darin Erklärungen oder Rechtfertigungen für einen Suizid genannt, die man nicht thematisieren sollte.

Für den Medienexperten Golli Marboe, der sich nach dem Suizid seines Sohnes intensiv für einen offeneren Umgang mit psychischer Gesundheit einsetzt, sollten Medien bei ihrer Berichterstattung stets an Freunde und Angehörige denken: Wie würde man ihnen von einem Suizidversuch berichten? Man müsse Anteilnahme zeigen, dürfe Menschen aber gleichzeitig nicht auf ihre Todesart reduzieren. Auch das "Verletzliche und Unfertige" könne öfter medial zum Ausdruck gebracht werden.

Papageno oder Werther

Grundsätzlich ist es für Kapitany verständlich, dass bei bestimmten Personen ein öffentliches Interesse bestehe, über einen Suizid oder einen Suizidversuch zu berichten. Das müsse aber so geschehen, dass keine weiteren Suizide provoziert werden. Kapitany wünscht sich "sachliche und objektive" Information. Suizidberichterstattung kann auch für Marboe eine Chance zur Prävention sein, wenn etwa auch Beispiele thematisiert werden, wie Suizide verhindert werden konnten und an welchen Stellen Menschen Hilfe erfahren haben.

Das nennt man den "Papageno-Effekt", in Anlehnung an Mozarts Zauberflöte. Hier wird Papageno erinnert, dass es Alternativen zu einem Suizid gibt. Das gilt als Gegenbeispiel zu dem oft zitierten "Werther-Effekt". Nach der Veröffentlichung von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther soll es zu einer gestiegenen Suizidrate unter jungen Männern gekommen sein.

Selbstermächtigung

Ähnlich wie der Presserat plädiert das Kriseninterventionszentrum in einem Leitfaden zu Suizidberichterstattung für das Vermeiden von stark emotional gefärbten Berichten, reißerischen Titelseiten oder plakativen Mitteilungen. Die Nennung von Hilfsangeboten sei in diesem Zusammenhang ganz wesentlich, betont Kapitany.

Gleichzeitig müssten die Artikel selbst so formuliert sein, dass Menschen nicht glauben, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden. Er hofft, dass Formulierungen wie eine "Selbstmordwelle" vermieden werden. Einer Welle sei man passiv ausgeliefert, bei Suizidgedanken gebe es aber immer die Möglichkeit, sich Hilfe zu holen. Auch Marboe betont die Selbstermächtigung Betroffener.

Für Kapitany wäre es wichtig, Journalistinnen schon in der Ausbildung mit ihrer Verantwortung bei den Themen Suizidalität und Gewalt zu konfrontieren. Ausgestattet mit dem nötigen Rüstzeug könnten sie präventiv berichten. (Astrid Wenz, 9.8.2022)