Der Durchbruch im Senat kommt für Joe Biden zu einer kritischen Zeit. Bei den Midterms droht die demokratische Mehrheit zumindest im Repräsentantenhaus verloren zu gehen.

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Einige lehnten sich müde gegen die Wand. Andere tigerten durch den ehrwürdigen Sitzungssaal, um gegen ihre Schläfrigkeit anzukämpfen. Die linke Senatorin Elizabeth Warren hatte unter einem grünen Sakko einen bequemen Kapuzenpulli angezogen. Der republikanische Minderheitsführer Mitch McConnell trug Sportschuhe zum blauen Goldknopf-Jackett.

Volle 16 Stunden lang debattierte der US-Senat vom späten Samstag bis zum Sonntagnachmittag über das Klima- und Sozialpaket und stimmte über 38 Änderungsanträge ab. Am Ende stand dann die hauchdünne Mehrheit für Joe Bidens wohl wichtigstes Gesetzgebungsvorhaben: 50 Demokraten stimmten dafür, 50 Republikaner dagegen. Vizepräsidentin Kamala Harris löste das Patt zugunsten der Demokraten auf. "Das ist ein großer Sieg für alle, die für den Klimaschutz gekämpft haben", sagte der progressive Senator Ed Markey, der draußen vor dem Kapitol das Ergebnis feierte.

Tatsächlich ist dem von miserablen Umfragewerten geplagten Präsidenten mit der Verabschiedung des Investitionspakets kurz vor der Sommerpause und vor den politisch schicksalhaften Zwischenwahlen im November ein Überraschungscoup gelungen.

Zwar bleibt das Paragrafenwerk, das im politischen Neusprech "Inflationsbekämpfungsgesetz" heißt, mit einem Volumen von 740 Milliarden US-Dollar (rund 725 Milliarden Euro) deutlich hinter Bidens ursprünglichen milliardenteuren Versprechen zurück. Doch der gigantische "Build Back Better Plan" war schon Ende des vergangenen Jahres mangels Mehrheit beerdigt worden. Umso beachtlicher ist die Wiederbelebung wichtiger Kernelemente.

Rekordsumme fürs Klima

Das Gesetz, das am Freitag noch vom Repräsentantenhaus gebilligt werden muss, sieht über zehn Jahre Ausgaben von 430 Milliarden Dollar vor. Der Löwenanteil von rund 370 Milliarden Dollar soll in die Bekämpfung des Klimawandels fließen – ein Rekordwert in der US-Geschichte. Geplant sind unter anderem massive Förderungen der Produktion von Solaranlagen, Windturbinen und Batterien. Viel Geld soll zudem in den Hochwasserschutz und Kaufsubventionen für Elektroautos fließen. Wichtigstes sozialpolitisches Vorhaben ist die Deckelung der Zuzahlung der Obamacare-Versicherten. Erstmals erhält die staatliche Krankenversicherung die Möglichkeit, die Arzneipreise mit den Pharmaherstellern zu verhandeln. Um ausstehende Steuern einzutreiben, ist eine Milliardenspritze für die marode Finanzverwaltung vorgesehen. Außerdem soll das Staatsdefizit um 300 Milliarden Dollar reduziert werden.

Bezahlt werden sollen diese Vorhaben durch die Einführung einer Mindestkörperschaftsteuer von 15 Prozent für große Konzerne. Sie soll Giganten wie Amazon treffen, die sich bisher erfolgreich komplett dem Zugriff des Fiskus entzogen haben. Allerdings musste die demokratische Partei aufgrund des Widerstands ihrer Senatorin Kyrsten Sinema in buchstäblich letzter Minute Steuerschlupflöcher für gewerbliche Betriebe und Hedgefonds wieder öffnen.

Das Gesetzesbündel habe viele Kompromisse gefordert, räumte Joe Biden ein: "So ist das fast immer, wenn man wichtige Dinge tut." Zugleich pries der Präsident das Klima- und Sozialpaket, mit dem ein zentraler Punkt seines Wahlkampfversprechens eingelöst werde – dass sich die Regierung für die Anliegen der arbeitenden Bevölkerung einsetzen werde.

Wahlen im Herbst

Der Durchbruch im Senat kommt für Biden, dessen Umfragewerte unter 40 Prozent gestürzt sind, zu einer kritischen Zeit. Bei den Zwischenwahlen im Herbst droht die demokratische Mehrheit zumindest im Repräsentantenhaus verloren zu gehen. Damit wäre der Präsident für den Rest seiner Amtszeit in seinen Gestaltungsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt. Angesichts der Dauerblockade der Republikaner könnte das Inflationsbekämpfungsgesetz auf Jahre das letzte wichtige Vorhaben sein, das die Demokraten durch den Kongress bringen. Allerdings spielte das Weißen Haus bei seinem Zustandekommen keine erkennbare zentrale Rolle. Wichtige Schlüsselfiguren für den Kompromiss waren vielmehr Chuck Schumer, der Mehrheitsführer der Demokraten im Senat, und der konservative demokratische Senator Joe Manchin, die Bidens ursprüngliches "Build Back Better"-Gesetz zu Fall gebracht hatten.

In der zweiten Julihälfte hatten Schumer und Manchin in Geheimverhandlungen den Überraschungsdeal geknüpft. Manchin soll dafür Zusagen für eine Pipeline in seinem Heimatstaat West Virginia erhalten haben.

Um Manchins Stimme zu erhalten, mussten die Demokraten auch auf jegliche steuerliche Belastung von Treibhausemissionen verzichten. Die von Joe Biden versprochene Reduzierung dieser klimaschädlichen Gase um 40 Prozent bis zum Ende des Jahrzehnts soll nun allein durch Anreize, Subventionen und Steuernachlässe erreicht werden. (Karl Doemens aus Washington, 8.8.2022)