Im Gastblog kritisiert der Blogger Georg Scherer, wie der öffentliche Raum in Wien aufgeteilt ist.

Begrünung, Verkehrsberuhigung und Radwege sind medial und politisch häufig ein Thema – in der gebauten Realität aber höchst unterrepräsentiert. In Wien sind zwei Drittel der Verkehrsflächen Fahrbahnen und Parkplätze. 31 Prozent sind Gehsteige, ein Prozent Radwege und ein Prozent Fußgängerzonen. Dabei handelt es sich um keine abstrakte Statistik, sondern um etwas, das jeder unmittelbar beobachten kann.

Um die Verteilung des öffentlichen Raums zu veranschaulichen, bietet sich eine einfache Methode der Visualisierung an. Bei den sogenannten Wiener Querschnitten wird eine Straße an einer bestimmten Stelle hergenommen und die Breite der einzelnen Flächen per Onlinekarte ermittelt – Genauigkeit ungefähr +/- 0,5 Meter. Zudem wird ein Auge auf Begrünung und Bodenbelag geworfen. Die Ergebnisse eröffnen im besten Fall einen neuen Blickwinkel auf etwas, das eigentlich schon längst bekannt scheint: die eigene Stadt.

Die Schieflage der Normalverteilung

Wo viele Menschen wohnen und unterwegs sind, ist der öffentliche Raum besonders gefordert. Fußgänger, Autofahrer, Radfahrer, Schanigärten und Begrünung konkurrieren um die begrenzte Fläche. Solche Gebiete sind für die Analyse besonders interessant. Das erste Beispiel findet sich in der Nähe von Wien Mitte. Auf einer Seite sind Schrägparkplätze, Bäume sind nicht gepflanzt:

Untere Viaduktgasse bei der Landstraßer Hauptstraße.
Foto: Georg Scherer

Wird diese Gasse als "Querschnitt" aufgedröselt, werden die Verhältnisse deutlicher. Fahrbahnen und Parkplätze machen über 70 Prozent aus:

Untere Viaduktgasse im 3. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Bei Straßen mit Tramway-Verkehr lassen sich die Verhältnisse nicht exakt darstellen, da die Gleise manchmal von Kfz befahren werden dürfen, manchmal nicht. In der Wallensteinstraße im 20. Bezirk wird aber deutlich, dass es zwar vier Spuren für Kfz gibt, jedoch keine Bäume und keinen baulich von der Fahrbahn getrennten Radweg:

Wallensteinstraße im 20. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Wer mit der "Querschnitte"-Brille durch die Stadt streift, stößt auch auf etliche kuriose Ecken. Die kurze Klanggasse im 2. Bezirk hat etwa ganze zehn Spuren für Kfz, obwohl sie keinerlei Bedeutung für den Autoverkehr hat:

Klanggasse zwischen Augarten und Heinestraße.
Foto: Georg Scherer

In schmalen Gassen wird in Relation besonders viel Raum für Fahrbahnen und Parkplätze bereitgestellt:

Sperrgasse bei der Mariahilfer Straße im 15. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Die Planungen in Wien orientieren sich fast immer an den Bedürfnissen des motorisierten Individualverkehrs. So ist beispielsweise das noch relativ neue Sonnwendviertel durch eine breite Barriere vom alten Favoriten abgeschnitten:

Sonnwendgasse im 10. Bezirk, nahe Hauptbahnhof.
Foto: Georg Scherer

Immer wieder verspricht die Politik mehr Begrünung und eine Verschönerung des öffentlichen Raums. In der Praxis passiert das aber selten. Den Bezirken fehlt schlicht das Geld, und das Rathaus ist oft nicht willens, die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Ob das auch der Grund ist, warum in der Kluckygasse in der Brigittenau nach dem Umbau fast alles beim Alten geblieben ist?

Kluckygasse im 20. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Nicht alles lässt sich mit den Querschnitten darstellen: Denn natürlich gibt es auch private Grünflächen, die von der Straße aus nicht sichtbar sind. Auch öffentliche Parks bieten Grünraum und sind autofrei. Dafür sind aber viele Straßen für Verkehrsteilnehmer ohne Kfz gar nicht nutzbar (Autobahnen, Schnellstraßen, überdimensionierte Kreuzungen). Parks und Grünflächen wiederum sind höchst ungleich über die Stadt verteilt.

Auto als Maß aller Dinge?

Die rot-pinke Stadtregierung hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt: 2030 sollen nur noch 15 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt werden. Öffentlicher Verkehr, Radfahren und das Zufußgehen sollen attraktiver, Parkplätze reduziert werden. Ob diese Ziele ernsthaft angestrebt werden, darf angesichts des Beharrens auf Stadtstraße, Lobautunnel und autogerechten Planungen (Praterstraße, Reinprechtsdorfer Straße) bezweifelt werden. Soll sich der gewünschte 15-Prozent-Kfz-Anteil aber auch nur annähernd im öffentlichen Raum widerspiegeln, würde das eine glatte Umkehrung des Ist-Zustandes bedeuten. Derzeit sind meist rund zwei Drittel der Querschnitte beziehungsweise Flächen vor allem für den Kfz-Verkehr reserviert:

Bellegardegasse in Kaisermühlen im 22. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Besonders viel Raum nehmen Pkw-Parkplätze ein. In dieser Straße in Ottakring gibt es auf beiden Seiten Schrägparkplätze:

Seeböckgasse im 16. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

In vielen Straßen finden sich größere entsiegelte Flächen, auf denen Bäume und Sträucher wachsen. Das reduziert extreme Hitze im Sommer:

Wolfganggasse im 12. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Nicht überall steht der motorisierte Individualverkehr im Mittelpunkt. In der Seestadt Aspern sind fast alle Straßen auf Fußgänger und Radfahrer zugeschnitten. Das singulär katastrophale Seeparkquartier – die asphaltlastige Fußgängerzone wird gerade notdürftig begrünt – darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der öffentliche Raum in der Seestadt mehrheitlich sehr durchdacht geplant ist:

Maria-Tusch-Straße in der Seestadt Aspern.
Foto: Georg Scherer

Prinzip Asphaltwüste

Wien wird zu Recht als schöne Stadt bezeichnet. An der Neubau-Architektur und der Gestaltung des öffentlichen Raums kann das aber nicht liegen. Während andere Städte ihre Straßen weit mehr mit Bäumen begrünen (zum Beispiel Berlin) und Gehsteige ästhetisch und mikroklimatisch anspruchsvoll mit Steinen pflastern (zum Beispiel Brüssel, Amsterdam), regieren hierzulande Asphalt und Beton. Um das zu veranschaulichen, sind in den Querschnitten auch die Bodenmaterialien angegeben. Hundertprozentige Asphaltflächen sind der absolute Regelfall. Das macht deutlich, wie schlecht Wien auf die eskalierende Klimakrise vorbereitet ist. Die einst allgegenwärtige Pflasterung mit Natursteinen gibt es in Wien heute fast nirgends mehr.

Tichtelgasse im 12. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Auch in dieser Gasse im 9. Bezirk ist alles asphaltiert:

Clusiusgasse im 9. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Viele Straßen machen einen vernachlässigten Eindruck. Weite, mehrfach geflickte Asphaltflächen, inexistente Begrünung und zwischen den Häusern baumelnde Drähte sind auch im Fasanviertel die Normalität. Das im 3. Bezirk zwischen Gürtel und Rennweg gelegene Viertel ist ein extremer Hitzepol – trotzdem wird demnächst die letzte größere Brachfläche teilweise verbaut. Errichtet wird eine Hochgarage.

Hohlweggasse im 3. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Selbst in Straßen mit Bäumen und Radwegen ist Asphalt auf den Gehsteigen allgegenwärtig. Das ist kein Zufall, sondern explizit durch eine jahrzehntealte Verordnung der Stadtregierung erlaubt. Im Fall der Margaretenstraße lässt sich der Platz für Kfz übrigens nicht exakt angeben, da einige Flächen zeitweise als Schanigärten genutzt werden.

Margaretenstraße im 4. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Schöne Häuser – weniger schöne Straßen

Die Gumpendorfer Straße in Mariahilf ist bekannt für ihre Geschäfte und Lokale. Im Gegensatz zu den aufwendig dekorierten Gründerzeithäusern ist der öffentliche Raum aber alles andere als attraktiv. Der durchfahrende Autoverkehr ist beträchtlich, die Asphaltfläche reicht von Häuserfront zu Häuserfront, Bäume gibt es fast keine.

Gumpendorfer Straße im 6. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Die Ringstraße hat schon bessere Zeiten gesehen – zumindest in Hinblick auf Verkehr und Gestaltung. Historisch gesehen ist sie eigentlich vor allem auf Fußgänger und den Straßenbahnverkehr zugeschnitten. Heute sind auf Wiens bekanntester Straße bis zu neun Spuren für Kfz eingerichtet. Als Bodenbelag kommt einmal mehr grauer Asphalt zum Einsatz:

Opernring im 1. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Ein ganz besonderer Fall ist die Kolingasse im 9. Bezirk. Eine Gasse mit beeindruckenden Häusern und großzügigem Querschnitt, die eigentlich ein weiter Platz sein könnte. Genutzt wird sie aber vor allem als Parkplatz mit Blick auf die Roßauer Kaserne:

Kolingasse zwischen Währinger Straße und Schlickplatz.
Foto: Georg Scherer

Radfahren ohne Radwege

Über tausend Kilometer ist das Radwegenetz Wiens offiziell lang. Nur ein verschwindender Bruchteil davon sind "echte" Radwege – also baulich von der Kfz-Fahrbahn getrennte Flächen. Die allermeisten Radwege sind zwischen Fahrbahnen und Parkplätzen aufgemalt, was sie entsprechend gefährlich macht und wohl nicht wenig Menschen überhaupt vom Radfahren abhält.

Die Hasnerstraße in Ottakring ist beispielsweise seit 2012 eine sogenannte fahrradfreundliche Straße. Es handelt sich aber eigentlich um nicht viel mehr als eine gewöhnliche Straße mit Schrägparkplätzen:

Hasnerstraße im 16. Bezirk.
Foto: Georg Scherer

Realität vs. Werbung

Aus den oben gezeigten Beispielen wird evident:

  • Für das Auto wird bei weitem die meiste Fläche bereitgestellt, obwohl die Mehrheit der Fahrten durch andere Verkehrsmittel erfolgt und 47 Prozent der Wiener Haushalte komplett autofrei sind.
  • Sichere Radinfrastruktur gibt es nur vereinzelt.
  • Selbst auf breiten Straßen fehlen Plätze, wo Menschen sich ohne Konsumzwang aufhalten können.
  • Begrünung ist vielerorts Mangelware.
  • Der öffentliche Raum ist fast komplett asphaltiert.
  • Attraktive Stadtgestaltung – bis hin zu schönen Straßenlaternen und Natursteinpflasterung – ist in Wien ein Fremdwort.

Hier tut sich fast eine gewisse kognitive Dissonanz auf: Denn Rathaus-PR, Inserate und Social-Media-Kampagnen der Stadt Wien zeichnen ein völlig anderes Bild. Umgestaltung, Begrünung und die Umverteilung des öffentlichen Raums funktionieren in Wien nämlich vor allem über eine ausgeklügelte Werbemaschinerie, mit der das seit Jahrzehnten traurige Niveau der Stadtgestaltung übertüncht werden soll. So werden Selbstverständlichkeiten wie Baumpflanzungen als Klimaschutzmaßnahme verkauft, während bei fast jeder Straßensanierung und bei fast jedem Umbau riesige Flächen unter dunklem Asphalt verschwinden. Dabei hatte Stadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) in einem Interview im STANDARD versprochen: "Jedes Mal, wenn eine Straße aufgebrochen wird, wird die Straße gleich neugestaltet."

Umverteilung ist möglich

Nichts ist für immer in Stein gemeißelt. Nachhaltig verändert hat sich zum Beispiel die Mariahilfer Straße. Aus der vierspurigen Straße (zwei Fahr- und zwei Parkspuren) wurde eine Begegnungs- und Fußgängerzone. Die Straße als gemeinsam genutzte Fläche ohne Privilegierung eines einzelnen Verkehrsmittels war schon um 1900 die Normalität. Auch die Neubaugasse als logische Erweiterung der Mariahilfer Straße hat sich stark gewandelt, ebenso die Zollergasse und die Königsegggasse.

Die Neubaugasse wurde 2021 umgestaltet.
Foto: Georg Scherer

Wenn Bezirkspolitik und Rathaus wollen, kann sich also viel verändern. Diese Veränderungen müssen im ganzen Stadtgebiet aber mit der Lupe gesucht werden. In den meisten Fällen verhindern ohnedies die Bezirksvorsteher frühzeitig, dass überhaupt etwas passiert. Einen großen Anteil daran hat die in Verkehr und Stadtplanung konservative SPÖ, die in dieser Hinsicht von ÖVP und FPÖ zuweilen ununterscheidbar ist. Von einer durchgängig progressiven Stadtgestaltung wie in den Niederlanden, in Ljubljana oder Barcelona ist Wiens Sozialdemokratie noch weit entfernt.

Eine Frage der Gerechtigkeit

Für sich genommen sind die Querschnitte, die die gebaute Realität natürlich nie vollständig abbilden können, schlicht deskriptiv. Was in das Ergebnis hineininterpretiert wird und welche Folgerung daraus gezogen werden, wird je nach politischer Einstellung und persönlichen Prioritäten variieren. Die Ergebnisse könnten aber vielleicht vor allem zwei Aspekte berühren: erstens die Anpassung an den Klimawandel durch Begrünung und die Reduktion von Asphalt. Und zweitens die Frage von Verteilung und Gerechtigkeit, die auf so vielen anderen Ebenen regelmäßig zu Diskussionen führt. Wo viele Menschen auf kleinem Raum wohnen, arbeiten und sich bewegen, ist "Flächengerechtigkeit" ein wichtiges soziales Anliegen. Denn der öffentliche Raum gehört uns allen. Seine Aufteilung und Gestaltung ist das Ergebnis politischer Entscheidungen. Es kann also auch immer anders werden. (Georg Scherer, 11.8.2022)