Im säulenbedingt etwas unübersichtlichen Verhandlungssaal 211 des Wiener Landesgerichts für Strafsachen muss sich ein Pfleger wegen sexuellen Missbrauchs eines Autisten verantworten.

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Wien – "Vielleicht habe ich ihn berührt, ohne es zu wollen", bekennt sich der 64-jährige Herr C. nominell teilweise schuldig – zum Anklagevorwurf, er habe im Jahr 2020 als Pfleger in einer Betreuungseinrichtung einen damals 17-jährigen Autisten masturbiert und damit sexuell missbraucht und sein Autoritätsverhältnis ausgenutzt. Doch wenn, sei es ein Versehen gewesen, erklärt der unbescholtene Rumäne dem Schöffensenat unter Vorsitz von Magdalena Klestil-Krausam.

Diese Verantwortung ist nach dem Eröffnungsplädoyer von Verteidiger Thomas Nirk ein wenig überraschend – hatte der Rechtsvertreter doch einerseits angekündigt, dass sein Mandant sich nicht schuldig bekenne, und andererseits ausgeführt, dass das Delikt nicht erfüllt sei, da der 17-Jährige nicht willenlos sei, sondern sehr wohl in der Lage, seinen Willen kundzutun, und es daher, wenn überhaupt, eine einvernehmliche geschlechtliche Handlung gewesen sei.

"Er hat mich geliebt!"

C. hat in seiner Heimat eine Ausbildung als Krankenpfleger absolviert, für die Betreuung psychisch beeinträchtigter Personen sei er aber nicht extra geschult, erzählt er dem Gericht. Er kam 2019 nach Österreich, im Sommer 2020 begann er in der Einrichtung zu arbeiten. Der 17-Jährige habe ihn bereits nach wenigen Stunden gern gehabt und sei ihm überallhin gefolgt, beteuert der Angeklagte: "Er hat mich geliebt!", lässt er übersetzen. Der Patient wollte ihm auch immer sein Hobby zeigen – der 17-Jährige häkelte leidenschaftlich Teppiche.

"Sie haben vorher gesagt, Sie hätten ihn irrtümlich am Penis berührt. Das kann ich mir nicht recht vorstellen", stellt Klestil-Krausam in den Raum. C. erklärt, er sei einmal beim Häkeln neben dem 17-Jährigen gesessen und habe ihm über den Oberschenkel gestreichelt. "Jetzt ist der Oberschenkel ja nicht der Penis", demonstriert die Vorsitzende fundierte Kenntnis der männlichen Anatomie. Vielleicht sei er versehentlich angekommen, meint der Angeklagte dazu.

"Schatzi" versus "Kleiner"

Eine andere Mitarbeiterin will auch erlebt haben, dass C. zu dem Autisten im Duschraum "Schatzi" gesagt hat. "Nicht Schatzi. Kleiner. Ich bin ein alter Mann", widerspricht der Angeklagte und sieht offenbar im Altersunterschied Grund genug, auf korrekte Umgangsformen zu verzichten. Insgesamt ist er der Meinung, dass eine weitere Kollegin eine Intrige gegen ihn gesponnen habe und dem 17-Jährigen die ganze Sache eingeredet habe.

Tatsächlich wurde er von der Einrichtung entlassen und arbeitet nun anderswo als Pfleger, angezeigt wurde der Fall zunächst aber nicht. Erst als der 17-Jährige seinem Vater von dem Vorfall erzählte, fragte der nach und beharrte auf einer strafrechtlichen Aufarbeitung. Als Zeuge schildert der Vater, dass er eigentlich nur durch Zufall eine Woche später auf die Sache aufmerksam wurde. "Wir sind auf der Couch gesessen, und mein Sohn hat sich auf seinem Handy Fotos angeschaut." Eines davon zeigte C., der Vater fragte, wer das sei. "Der ist urlieb zu mir", antwortete der 17-Jährige und fragte, ob er zeigen dürfe, wie sich diese "Zuneigung" äußerte.

Kontradiktorische Vernehmung

Der Vater macht dem Gericht auch klar, dass der Teenager keinerlei Bezug zu Sexualität habe. "Er hat eine geistige Behinderung, er ist Autist. Er geht auf jeden zu", glaubt er auch nicht, dass C. eine besondere Beziehung gehabt habe. Andere Pflegerinnen und Pfleger berichten, dass der 17-Jährige auch ihnen auf Nachfrage von dem Vorkommnis erzählt habe. Sie bestätigen auch, dass der Autist zwar gelegentlich Geschichten erfinde, da gehe es aber um Kleinigkeiten, und er sei auch nicht fähig, eine derartige Geschichte länger aufrechtzuerhalten.

Die psychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter kommt in ihrem Gutachten zu dem Schluss, dass bei dem 17-Jährigen zwar eine erhebliche Beeinträchtigung der Aussagefähigkeit vorliege, aber er das Kerngeschehen in seiner Erinnerung gespeichert habe und widerspruchsfrei erzählen könne. Der Senat kann sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit selbst ein Bild davon machen, als die halbstündige kontradiktorische Vernehmung des 17-Jährigen abgespielt wird.

Angeklagter erkennt Schadenersatz an

"Wie geht es Ihnen, wenn Sie das hören?", will Klestil-Krausam danach vom Angeklagten wissen. "Es geht mir nicht gut", gibt der zu. Als die Privatbeteiligtenvertreterin des Minderjährigen 1.000 Euro Schadenersatz fordert, reagiert C. zunächst unfroh: "Ja, aber ich habe ja absolut nichts gemacht!", beharrt er. Überraschenderweise erkennt er nach kurzer Rücksprache mit Verteidiger Nirk die Summe dann aber doch an.

Nach gut 20 Minuten fällt das Gericht sein Urteil: C. wird rechtskräftig wegen sexuellen Missbrauchs einer psychisch beeinträchtigten Person zu zwei Jahren Haft verurteilt, acht Monate davon sind unbedingt. Die sechs Wochen, die der Angeklagte im Herbst in Untersuchungshaft gesessen ist, werden davon abgezogen. "Sie waren für uns nicht glaubwürdig", begründet die Vorsitzende, es sei auch "völlig lebensfremd, dass der 17-Jährige sich eine ausgedachte oder eingetrichterte Geschichte eineinhalb Jahre lang merken könnte". (Michael Möseneder, 9.8.2022)