Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. Matt Smith mit Drachenei in "House of the Dragon". Das Prequel von "Game of the Thrones" startet am 22. August bei Sky.

Foto: HBO / Sky

Timo Storck ist psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker in Berlin und forscht über die Psychologie zeitgenössischer TV-Serie.

Foto: Janine Guldener

Der Seriensommer steht dieses Jahr eindeutig im Zeichen von Fantasy. Netflix landete soeben einen Hit mit Neil Gaimans "The Sandman", kommendes Wochenende lässt HBO mit dem "Game of Thrones"-Prequel "House of the Dragon" Drachen steigen, am 2. September erzählt Amazon Prime in "Ringe der Macht" die Geschichte von J. R .R. Tolkiens Númenor aus "Herr der Ringe". Angebot trifft Nachfrage: Die Hype ist mächtig. Nirgendwo wird derzeit so viel Geld investiert wie in diesen fantastischen Paralleluniversen. Schnöde eskapistische Bedürfnisse in Krisenzeiten beim Publikum allein können das nicht erklären, sagt der Kulturpsychologe Timo Storck.

STANDARD: Gemessen am Zustand der Welt und unserer Befindlichkeit: Kommt die Fantasyserie "House of the Dragon" kulturpsychologisch zur richtigen Zeit?

Storck: Das ist eine große Frage. Ohne die Serie zu kennen, lässt sich das nur bedingt beantworten. Wir wissen, dass "House of the Dragon" die Geschichte eines Untergangs erzählen wird. Das Narrativ von einem Gefühl existenzieller Bedrohung ist damit völlig auf der Linie vieler anderer fiktionaler und leider auch realer Entwicklungen – zum Beispiel im Hinblick auf die Klimakrise und bewaffnete Konflikte in der Welt. Die Entwicklung von Untergangsnarrativen in Filmen und Serien hat aber schon früher begonnen. So gesehen kommt "House of the Dragon" zur rechten Zeit, das wäre aber vor zwei, drei Jahren auch schon der Fall gewesen.

Das Prequel zur Kultserie "Game of Thrones" handelt von der Vorgeschichte der Targaryen-Familie. Es startet am 22. August auf Sky Atlantic.
DER STANDARD

STANDARD: Die Erzählung "Weil die Welt unsicherer geworden ist, reflektieren wir mehr auf Fantasyserien" stimmt also nicht?

Storck: Sagen wir so: Es hat sich zugespitzt. Die Ballung von Corona-Krise und Ukraine-Krieg gab es vor 2020 nicht. Aber das Bedürfnis nach und die Faszination für Untergangsnarrativen ist nicht ganz neu.

STANDARD: Was fasziniert so am Untergang in Serien?

Storck: Der Untergang liefert die Möglichkeit einer Bewältigung – vor allem von Emotionen. Die Erzählung schafft einen Rahmen für die Auseinandersetzung mit Ängsten, mit Worst-Case-Szenarien – und dazu muss sie gar nicht unbedingt gut ausgehen. Ein anderer Aspekt betrifft die Frage: Wie geht es danach weiter? Wie geht es denn weiter, wenn die Welt nicht mehr so ist, wie wir sie kennen? Was kommt danach? An welche veränderten Lebensbedingungen müssen wir uns gewöhnen, an welche veränderten Ideen von Regierung oder Staatsform? Und vielleicht hat der Crash auch etwas Erlösendes im Hinblick auf eine neue Ordnung, auf eine nicht so beschädigte Welt.

STANDARD: Und warum mögen wir Drachen?

Storck: Ich würde denken, dass Drachen – im Vergleich zu anderen "Monstern" – durchaus im klassisch-ästhetischen Sinn als etwas Erhabenes erlebt werden. Sie verbinden Kraft und Zerstörung mit Eleganz. Womöglich berührt das bei uns die Sehnsucht nach einer Verbindung mit den Naturgewalten – zu Wasser, in der Luft, auf der Erde und feuerspuckend.

Fantasyserien sind eingekleidet in etwas, das erst mal fantastisch wirkt, aber das Thema ist viel näher an uns dran, als es zunächst scheint.

STANDARD: Generell stehen Serien mit fantastischen Figuren und Geschichten hoch im Kurs. Ist das nur der schnöde Eskapismus, oder steckt mehr dahinter?

Storck: Eskapismus fasst das Phänomen als Erklärung zu kurz. Die Liebe zu einem Fußballverein kann genauso Eskapismus sein wie die Zugehörigkeit zu einem Lesekreis oder die Modelleisenbahn als Hobby. Natürlich kann man sagen, ich beschäftige mich mit dem Weltgeschehen, also sehe ich mir dazu eine Serie wie "The West Wing" an, die ziemlich nahe an der Realität ist. Umgekehrt finde ich für die persönliche Auseinandersetzung eine Serie wie "The Walking Dead" oder "House of the Dragon" gar nicht so viel fantastischer oder fiktionaler, weil die darin verhandelten Themen ja sehr real sind. Wie funktioniert ein Staatsoberhaupt, wie gehen Gruppenprozesse? Fantasyserien sind eingekleidet in etwas, das erst mal fantastisch wirkt, aber das Thema ist viel näher an uns dran, als es zunächst scheint.

STANDARD: Ein Grund für den Erfolg von "Game of Thrones" waren wahrscheinlich auch die Gewaltdarstellungen. Warum ist das denn so faszinierend?

Storck: Spannend, wann immer man über "Game of Thrones" ins Gespräch kommt, stellt sich irgendwann diese Frage. Die erste Folge der ersten Staffel endet damit, dass ziemlich grafisch eine Inzestszene gezeigt wird und danach ein kleiner Junge aus einem Fenster gestoßen wird. Wie kommt es, dass wir nicht sagen: Nein, danke, davon will ich nicht noch mehr sehen? Sondern im Gegenteil sagen: Ah, spannend, ich will wissen, wie es weitergeht. Ein Seitenstrang der Serien der letzten zehn 20 Jahre ist ja, dass man sich als Publikum nicht mehr so sicher fühlen kann, dass die Guten erstens alles überleben und zweitens uneingeschränkt gut sind. Ich glaube, das macht die Faszination an den Narrativen aus, dass es eben nicht mehr so ist wie bei James Bond, der sich am Ende immer aus allem befreien kann, kurz bevor ihm irgendwas Schlimmes zustößt, und der auch immer eindeutig auf der guten Seite ist. Und so würde ich auch die Darstellung von Gewalt und die Ambiguität der Charaktere verstehen. Ich will nicht unbedingt immer sehen, dass alles gut ausgeht und schön aussieht und harmonisch ist. Bei "Game of Thrones" kommt die Vorlage dazu, und George R. R. Martins Mittelalter ist eben vor allen Dingen dreckig und gewaltvoll. Daraus ergibt sich eine weitere Art von Realismus.

STANDARD: Gleichzeitig eine Schwierigkeit für "House of the Dragon", weil Brüche in Narrativen sind mittlerweile gang und gäbe. Man erwartet schon fast, dass nach vier, fünf Folgen eine Hauptfigur stirbt. Gibt es Möglichkeiten neuer Narrative für "House of the Dragon"?

Storck: Das Format Serie ist bereits seit einigen Jahren in der Krise. Zum Beispiel, weil sich genau dieser Effekt abgenutzt hat oder inzwischen jedem klar ist, da steckt viel Geld dahinter, da gibt es einen hohen Anspruch, auch an das Niveau der Schauspielerei, der Autorinnen und Regisseure. Gewalt oder Überraschungseffekte alleine reichen ja auf die Dauer nicht aus, es geht schon um die Kombination mit einer komplexen Geschichte. Bei "Game of Thrones" kann man das gut sehen: Die letzte Staffel wurde scharf kritisiert, weil die Erzählung nicht überzeugte. In der Literaturtheorie gibt es die Idee der poetischen Gerechtigkeit, wonach eine Geschichte stimmig weiter und zu Ende erzählt werden soll. Bei der letzten Staffel von "Game of Thrones" mussten die Geschichten auf einmal schnell zu Ende erzählt werden, sodass die Erzählung letztlich etwas weniger poetisch gerecht wurde. Das ist einerseits eine Bürde für "House of the Dragon", aber vielleicht auch eine Chance. Es ist zunächst einfacher, eine erste Staffel zu drehen und zu schreiben als eine letzte. Die Übersättigung durch aufwendig produzierte Serien mit Knalleffekten ermöglicht vielleicht, die Figuren wieder mehr zu entwickeln.

STANDARD: Was verrät der Trailer?

Storck: Ich finde ihn nicht besonders übersichtlich im Hinblick auf die Figuren und wofür sie stehen, und darin fällt mir besonders auf, dass offenbar das Thema "Stehen Töchter in der Erbfolge?" bzw. "Darf es eine Königin geben, die überall herrscht?" berührt wird – das ist spannend und aktuell.

HBO Max

STANDARD: Können Serien helfen, Ängste zu lindern? Wir haben bereits über Bewältigungsstrategien gesprochen.

Storck: Ängste können Linderung erfahren, wenn sie einen Rahmen bekommen. Meistens ist das der Rahmen einer Beziehung, in dem Ängste geteilt werden, wo man getröstet wird oder zusammenstehen kann. Eine Serie und die Figuren darin sind natürlich nicht dasselbe wie eine richtige Person, die bei mir ist, wenn ich mich ängstige, aber Filme stellen die Möglichkeit von Probeangst her. Wir kennen das aus Horrorfilmen. Das ist auch Angst, aber eine, die wir einerseits ausschalten können, wenn es zu viel wird, und andererseits ist diese Form von Angst immer mit der Komponente von Neugier und Faszination verbunden. Das hat damit zu tun, dass wir uns ausprobieren wollen. Ist es aushaltbar und wie? Insofern würde ich Ihre Frage mit Ja beantworten. Mit dem kleinen Zusatz: "House of the Dragon" zu schauen wird die Ängste vor dem Ukraine-Krieg nicht wirklich lindern, weil die Serie dazu einfach zu wenig in der Welt konkret verändert. Aber im Einüben von Fragen wie "Wie geht es mir?" und "Wie geht es mit mir weiter?" ist die Serie vielleicht ein Werkzeug. (Doris Priesching, 18.8.2022)