Die 75-jährige Autorin überschreitet mit ihrem Schreiben Grenzen, lädt zur literarischen Verhandlung von Identitätssuche und Migrationserfahrung ein.
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Der Georg-Büchner-Preis, eine der renommiertesten deutschsprachigen Literaturauszeichnungen, markiert einen weiteren Höhepunkt in der Karriere der 75-jährigen Schriftstellerin, Schauspielerin und Theaterregisseurin Emine Sevgi Özdamar.

Für viele vielleicht noch eine Entdeckung, ist die deutsch-türkische Autorin seit Jahren ein wesentlicher Teil der deutschsprachigen Literaturszene: 1991 erhielt sie für ihren ersten Roman Das Leben ist eine Karawanserei den Bachmannpreis – als erste Schriftstellerin nicht-deutscher Muttersprache. Ihr Werk eröffne "einen zugleich intellektuellen wie poetischen Dialog zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen und Weltanschauungen, an denen wir lesend teilhaben dürfen", urteilte die Jury des Büchnerpreises nun.

Emine Sevgi Özdamar, 1946 geboren, wuchs in Istanbul auf und besuchte dort die Schauspielschule. Nach dem Militärputsch 1971 veränderte sich das politische Klima in der Türkei, Intellektuelle wurden gefoltert und verhaftet. Inspiriert vom Schreiben Bertolt Brechts, eröffnete die deutsche Sprache der Autorin seither einen Raum, den ihr die türkische Sprache damals versagte. Özdamar kam nach Berlin, arbeitete vor allem im Theaterbereich und debütierte 1986 mit ihrem Stück Karagöz in Alamania im Regiefach am Schauspiel Frankfurt. Heute lebt sie in Berlin.

Sprachliche Verflechtung

Özdamar überschreitet mit ihrem Schreiben Grenzen, lädt zur literarischen Verhandlung von Identitätssuche und Migrationserfahrung ein. Bildgewaltig spielt sie mit sprachlichen Hürden und verwebt dabei häufig die deutsche und türkische Sprache. So auch in ihrer vielzitierten Erzählung Mutterzunge, die das Sprechen zwischen Generationen und Kulturen in den Fokus rückt: "In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin. Ich saß mit meiner gedrehten Zunge in dieser Stadt Berlin." Es ist das Bild einer hybriden Kultur, das die Autorin zeichnet, jenseits von literarischen Kategorisierungsversuchen und homogenen Nationalliteraturkonzepten.

Ihr jüngster Roman Ein von Schatten begrenzter Raum macht auf 590 Seiten erneut Grenzüberschreitungen erfahrbar. Özdamar spannt darin einen geschichtlichen Bogen zwischen einem Europa der Nachkriegszeit und der Gegenwart, erzählt von der Flucht aus der Türkei und der Liebe zur Kunst. Zwischen Bedrohung und Geborgenheit eröffnet sie einen Raum: von Schatten begrenzt. (Laura Kisser, 9.8.2022)