Rechtswissenschafter, Rektor, Politiker und retour: Manfried Welan hält die demokratischen Institutionen für stabil, nur: "Das G’hört-sich ist zurückgegangen."

Foto: Heribert Corn

Sechs Jahrzehnte lang hält Manfried Welan der ÖVP nun schon die Treue. Heuer werden es 61 Jahre, die der 85-Jährige Mitglied in der Österreichischen Volkspartei ist. Politisch selbst aktiv war der langjährige und legendäre Rektor der Universität für Bodenkultur in Wien als einer der "bunten Vögel", mit denen Erhard Busek die Stadt modernisieren wollte. Als der Schauspieler Oskar Werner Anfang der 80er-Jahre im Café Hawelka fragte, wer denn da komme, stellte Welan die Truppe als "Busek und seine Hawara" vor. Werners Reaktion: "Busek ist gut, den brauch ma in Wien."

STANDARD: Sie sind 1961 in die ÖVP eingetreten und haben in einem kleinen Buch "60 Jahre Mitglied – eine persönliche Geschichte der ÖVP aus 60 Jahren" resümiert. Sie haben insgesamt 16 ÖVP-Obmänner von Julius Raab bis Karl Nehammer erlebt, von denen sieben auch Bundeskanzler waren. Wie würden Sie diese "Beziehungskiste" zusammenfassen?

Welan: Es war ein Auf und Ab. Ich habe die 17 Jahre Opposition ab 1970 erlebt und daher mit großem Erstaunen beobachtet, wie die Medien später über die ÖVP hergezogen sind, weil das aus meiner Sicht viel harmloser war als das, was in der SPÖ-Alleinregierung geschah. Der große Unterschied ist vielleicht, dass die ÖVP immer noch stark in den Ländern und in den Kammern war, und das bleibt sie auch. Die ÖVP lebt eigentlich in den Ländern und ruht in den Gemeinden.

STANDARD: Wie oft waren Sie an dem Punkt, wo Sie sich gedacht haben: "Es reicht! Nicht mit mir. Ich geh!"?

Welan: Nie. Anhänglichkeit oder auch eine gewisse Schwerfälligkeit, um nicht zu sagen Treue ist eine Eigenschaft von mir. Ich bin nirgends ausgetreten, auch nicht aus der katholischen Kirche. Ich ertrage sie auch mit ihren Schwächen. In der ÖVP kommt ja immer was Neues nach, und ich kenne immer auch die positiven Seiten. Für mich gehören dazu eine Form von Konservativismus, eine gewisse Tradition und Bodenständigkeit, auch eine gewisse Verbundenheit mit der Geschichte.

Manfried Welan am 8. August 2022 beim Interview im Café Schwarzenberg in Wien.
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STANDARD: Für viele scheinen jetzt aber die negativen Seiten zu überwiegen. In Umfragen liegt die ÖVP auf Platz drei bei nur 20 Prozent sogar hinter der FPÖ. Wie erklären Sie sich das?

Welan: Man kann da auf den Kurz zurückgehen, weil Sebastian Kurz vielleicht eine Illusion war. Denn wenn man sich Kurz wegdenkt, dann ist die ÖVP ungefähr dort, wo sie vor zehn Jahren war. Also die Faszination des Kurz hat, glaube ich, vieles überspielt, was in der ÖVP war, obwohl er, was seine Ambitionen anlangt, Ähnliches gemacht hat wie Josef Taus. Ich war in der Siebzehnerkommission, die eine Gesamtreform der ÖVP zur Aufgabe hatte – inklusive einer organisatorischen Zentralisierung. Damit ist Taus seinerzeit aber gescheitert.

STANDARD: Kurz hat sich zwar kurz die innerparteiliche Macht holen könne, ist letztlich aber doch auch gescheitert. Zumindest die ÖVP liegt nach seinem Intermezzo am Boden.

Welan: Kurz ist vielleicht an sich selber gescheitert, aber er ist nicht an der Partei gescheitert. Die hat ihn eigentlich bis zum letzten Augenblick gehalten, bis ihn die Landeshauptleute fallen gelassen haben.

STANDARD: Wie ordnen Sie die Episode Kurz in Ihrer subjektiven Geschichte der ÖVP ein? Sie sagten über ihn einmal, dass Sie sich ihn mit zwei Worten erklären: "Das eine ist französisch: la desinvolture – Ungeniertheit. Und das zweite ist Resilienz – Widerstandsfähigkeit." Politisch habe er die ÖVP, nachdem Wolfgang Schüssel ihr bereits "einen gewissen Rechtsruck" verpasst habe, die Linie "noch weiter nach rechts außen verlegt".

Welan: Die Österreicher sind Sozialisten. Wer das weiß, ist klug. (lacht) Das merkt man ja jetzt wieder, wie jeder was will vom Staat. Das ist Sozialismus pur. Oder Nächstenliebe. Und da deckt sich die ÖVP durchaus mit der Sozialdemokratie.

STANDARD: Das heißt für die ÖVP?

Welan: Sie muss mitgehen. Mit den Spendern. Mit den Unterstützenden. Sie kann nicht sagen: Warum habt ihr nichts gespart für die Notzeiten? Das hat man früher gemacht. Jetzt gibt es, ich weiß nicht, wie viele, Fonds, die jeweils einen gewissen Teil der Verluste ausgleichen sollen.

STANDARD: Mit welchem Blick schauen Sie als "grüner" Vogel auf die aktuelle Koalition der ÖVP mit den Grünen? Sind sie für Sie quasi der "natürliche" Koalitionspartner der ÖVP?

Welan: Ich war immer schon ein Grüner. Das hängt mit meinem Vater zusammen, der Biologe war. Für den waren Berge, Bäume, Bäche, Blumen und auch Bauern sehr maßgebend. Das war auch bei mir so. Ich würde sagen, dass ÖVP und Grüne wahrscheinlich nicht die großen Probleme gelöst haben, aber kleinere. Offen ist – seit der Monarchie – die Grundrechtsreform. Die Kompetenzverteilung im Staat wurde nicht angegangen, und ich glaube, ich gewinne jetzt wieder eine Wette, die ich bisher immer gewonnen habe: Das Amtsgeheimnis ist nicht aufgehoben. Gehört es aber. Das Amtsgeheimnis muss weg, es ist überholt. Das muss die nächste Regierung auf jeden Fall in Angriff nehmen.

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STANDARD: Sollten mehr Kompetenzen von den Ländern zum Bund?

Welan: Da bin ich dagegen. Ich bin länderfreundlich und glaube, die Länder haben seit dem Beitritt zur EU eine neue Staatlichkeit gewonnen, die man ihnen eigentlich honorieren und nicht wegnehmen soll. Ja, wir haben kein Notstandsrecht, das ist richtig, manche Dinge gehören zentralisiert, das ist gar kein Zweifel. Aber im Großen und Ganzen bin ich Anhänger der Schweiz, dass man den Ländern möglichst viele Kompetenzen geben soll, zum Beispiel auch das Steuerrecht.

STANDARD: Was hält Sie eigentlich in der ÖVP, immerhin hieß es in einer Festschrift für Sie, Sie seien "einer der wenigen Liberalen in Österreich". Wo ist denn die ÖVP liberal?

Welan: (lacht) Na ja, zum Beispiel gegenüber ihren ehemaligen Funktionären und Mitgliedern.

STANDARD: Die ja immer weniger werden, zumindest die Mitglieder.

Welan: Ja, schon, aber zum Beispiel ein Franz Fischler kann viel mehr sagen, als er vielleicht in anderen Parteien sagen könnte.

STANDARD: Aber wird er auch gehört?

Welan: Oja! Er wird schon gehört, ich würde sogar sagen, dass viele seiner Meinung sind. Ich glaube schon, dass es eine sehr entscheidende Rolle spielt, dass innerparteilich so eine Art wechselseitige Anhänglichkeit besteht. Darum habe ich immer gesagt, ich wurde durch die ÖVP Österreicher – auch. Weil in der ÖVP alle zusammenkommen, die Dialekte, die Trachten, die Traditionen. Die ÖVP ist für mich die bodenständigste Partei.

STANDARD: Allerdings haben Sie in der ÖVP als Liberaler, der zum Beispiel für eine gemeinsame Schule eintritt, sehr wohl eine offene Flanke ausgemacht. Sie schreiben im Buch: "Die Neos sind für mich eine spezielle Weiterentwicklung der ÖVP zu einer liberalen neuen Bürgerlichkeit."

Welan: Ja, aber es ist sehr interessant, dass mir dort die Wärme fehlt. Ich war ja ein paarmal dort als Vortragender. Auch in Wien haben sie in der Koalition mit der SPÖ nicht das erfüllt, was ich erwartet habe. Beispiel MA 35, Ausländerproblematik, nicht wirklich angefasst von den Neos. Dort hätten sie für das Wahlrecht der Ausländer eintreten müssen, für die Staatsbürgerschaft nach fünf Jahren usw. In mancher Hinsicht haben sie mir auch die Wirtschaftsliberalität zu stark vertreten. Zur gemeinsamen Schule: Sie hat sich anderswo gut bewährt. Ein Problem ist auch, dass man bei uns immer originell sein will. Ich habe immer gesagt: Austrifizieren! Die ausländischen Gesetze, die gut sind, abschreiben und austrifizieren. Warum muss man alles erfinden? An dem scheitert übrigens auch das Amtsgeheimnis.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrer ÖVP-Geschichte: "Ich glaube, dass diese Partei immer gesucht hat nach ihrer Ausrichtung, soll sie christlich, sozial, konservativ, liberal, dann später grün sein. Und wirklich ganz klar ist das nie ausgesprochen worden." Wofür steht oder sollte sie stehen?

Welan: Für mich ganz klar: die ökosoziale Marktwirtschaft. Ein Weltprogramm. Warum die ÖVP das nicht ständig vor sich herträgt, ist mir ein Rätsel.

STANDARD: Ist Karl Nehammer der richtige ÖVP-Chef zur richtigen Zeit? Kann er die Volkspartei aufrichten?

Welan: Ich kenne seine Eltern sehr gut, besser als ihn, glaube aber, dass er gerade jetzt für diese unsichere Zeit, diese Interimszeit, wo politisch niemand wirklich was will oder ein Konzept hat – Was haben denn die anderen Parteien? – ganz gut ist. Er hält das ganz gut aus.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Was haben Sie sich eigentlich gedacht, als die Chats aus dem engsten Umfeld von Ex-Kanzler und Ex-Parteichef Sebastian Kurz bekannt wurden? In denen ging es um Postenschacher, A-Wort-Beleidigungen des Parteichefs und Selbstverortungen als "Hure der Reichen". Sie schreiben in Ihrem Buch: "In der Politik hat man sich früher so verständigt wie in der Diplomatie, so à la Ingeborg Bachmann: 'Abstand ist Anstand.' Das hat die junge türkise Truppe ziemlich anders gehandhabt.

Welan: Das ist eine Frage der Technisierung und eine Frage der Persönlichkeiten. Sie haben sich so benommen, wie es zum Beispiel ein Nixon als Präsident gemacht hat. Also immer die ärgsten Schimpfwörter einsetzen und so. Das hat man früher nicht gemacht. Ich würde ganz allgemein sagen, was in Österreich zurückgegangen ist, ist das sogenannte G’hört-sich. Das G’hört-sich ist zurückgegangen. Die Menschen haben mehr Freiheit im Sinne von Hemmungslosigkeit. Das ist auf allen Gebieten so. Natürlich hat das auch gewisse Vorteile. Wobei ich sagen muss, eine gewisse Gelassenheit oder Distanziertheit ist natürlich ein Erfolg des Alters. Darum bin ich auch nicht so streng mit der Verurteilung dieser Leute, weil sie können’s nicht anders. Sie haben keine andere Bildung. Wenn ich Goethes "Urworte. Orphisch" zitieren konnte als Politiker – das ist jetzt vorbei. Es ist alles ordinärer geworden.

STANDARD: Ein Lebensthema von Ihnen als Politiker wie als Rechtswissenschafter war Demokratie oder Demokratisierung. In Ihrer ersten Rede im Wiener Landtag sagten Sie: "Den früher von Bruno Kreisky gesprochenen Satz ,Man hält die Demokratie dadurch ruhig, dass man sie unruhig hält', hört man nicht mehr. Wir sollten ihn aufnehmen und ihn in schöpferische Arbeit umsetzen." Schöpferische Demokratiearbeit sieht man kaum, im Gegenteil: Es ist viel die Rede von der "Krise der Demokratie". Sehen Sie die Demokratie in Gefahr?

Welan: Nein, überhaupt nicht. Die Institutionenstabilität ist groß. Ich bin da eher gelassen. Es ist halt alles ein bissl kindischer geworden, ordinärer, vulgärer, banaler – Grobianismus habe ich früher gesagt. (Lisa Nimmervoll, 11.8.2022)