In der Ukraine sind bereits zahlreiche Traktorfahrer durch russische Artillerie und Minen getötet worden. Tausende Hektar Weizen sind durch die Feuer, die nach den Explosionen entstehen, verbrannt.

Foto: APA/AFP/Ukraine Emergency Service

Wer die Autobahn M14 von Mykolajiw in Richtung Cherson im Süden der Ukraine entlangfährt, wartet nicht lange auf die Bilder der Verwüstung. Verkohlte Felder, zerstörte Dörfer, in der Ferne das Donnern der Artillerie. Näher an der Front rumpeln klobige ukrainische Militärlastwagen und Panzer über die unbefestigten Nebenstraßen. Daneben bringen Traktoren und Mähdrescher die Ernte ein. Selenyj Haj ist ein Ort, an dem die Menschen in friedlichen Zeiten Weizen, Sonnenblumen und in den Gemüsegärten Tomaten anbauten. Heute ähnelt es einem Geisterdorf.

Von 1.100 Menschen wohnen nur noch 150 hier, erzählt Iwan Kyrykowytsch. Der 50-jährige Bauer, T-Shirt, Mütze und Schnauzbart, schlendert mit beiden Händen in den Hosentaschen über sein Grundstück und zeigt, wo er einst Tonnen an Sonnenblumenkernen und Gerste für den Export lagerte. Zwei zugelaufene, ausgehungerte Boxerhunde, die von ihren Besitzern zurückgelassen wurden, trotten ihm hinterher. Bis zum Vorjahr konnte Kyrykowytsch gut von der Landwirtschaft leben. Vor kurzem investierte er in Solaranlagen und wollte neben der Lagerhalle eine Werkstatt bauen. Er zeigt den Krater, den eine Rakete vor einigen Tagen in die Wand seiner Lagerhalle gerissen hat. Das Dach ist an manchen Stellen gefährlich tief eingesunken. Die Fensterscheiben des Traktors sind durch die Explosionen zerbrochen. In den vergangenen Tagen war es ruhig, erklärt der Bauer. "Doch genau deshalb machen wir uns Sorgen. Wenn es zu lange ruhig ist, wissen wir, dass sich die Russen ausruhen, planen und dann bald wieder angreifen werden."

Iwan Kyrykowytsch konnte bis zum Vorjahr gut von der Landwirtschaft leben.

Ukrainische Landwirte tragen zwar keine Uniform. Doch seit dem Krieg ist ihre Arbeit fast genauso gefährlich wie die der Soldaten. Im gesamten Land sind Traktorfahrer durch russische Artillerie und Minen getötet worden. Tausende Hektar Weizen sind durch die Feuer, die nach den Explosionen entstehen, verbrannt. Auch das Feld eines befreundeten Bauern stand vor kurzem noch in Flammen, sagt Kyrykowytsch und zeigt ein Handyvideo, auf dem ein Traktor zu sehen ist, mit dem der Bauer versucht, einen Teil des Getreides zu retten. "Es ist uns gelungen, das Feuer einzugrenzen", sagt er beiläufig und erklärt, dass er sich um die Ernte schon gar keine Gedanken mehr mache. "Derzeit liegt der Preis bei 85 Euro pro Tonne Sonnenblumen oder Gerste. Im Vorjahr haben wir das Doppelte verdient." Auf die Frage, was der Staat tun solle, winkt er ab und antwortet: "Die sollen mich einfach in Ruhe lassen."

Iwan Kyrykowytsch zeigt ein Handyvideo von einem Feld eines befreundeten Bauern.
Foto: Prugger

Ein kleines bisschen Hoffnung

Die Ukraine ist eines der größten Getreideexportländer der Welt und die Agrarindustrie einer der wichtigsten Wirtschaftssektoren. Sie machte zuletzt etwa elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Doch noch wichtiger ist die Landwirtschaft für die Exporteinnahmen, die im vergangenen Jahr 41 Prozent aller ukrainischen Exporte ausmachten. Monatelang behinderten die russischen Truppen die Exportmöglichkeiten der Ukraine, indem sie die Schifffahrtswege im Schwarzen Meer blockieren und verminten, die Ausrüstung ukrainischer Landwirte und die Ernte in den besetzten Gebieten stahlen. Die Nachricht, dass Anfang August das erste Schiff mit Getreide den Hafen von Odessa verlassen hat, brachte zwar ein kleines bisschen Hoffnung in das Leben von Bauern wie Kyrykowytsch, die wissen, dass sie hier, so nahe an der Frontlinie, auf sich selbst gestellt sind. "Das ist ein positives Signal", sagt er. Doch in Wahrheit stehen die ukrainischen Landwirte längst vor neuen Hürden: dem Anbau in einem Kriegsgebiet.

Ein Großteil der ukrainischen Getreideernte besteht aus Winterweizen und Gerste, die im Frühherbst gesät und im folgenden Sommer geerntet werden. Kyrykowytsch sagt, dass er seine 400 Hektar Land so lange bestellen wird, wie es ihm möglich ist. "Wir sind mutig, aber nicht suizidal." So wie viele kleine Dörfer, die schon seit Monaten kein fließendes Wasser oder Strom haben, gerät auch Selenyj Haj immer wieder in die Schusslinie. Die Frontlinie befindet sich nur zehn Kilometer entfernt. Kaum ein Haus wurde verschont. Die russischen Truppen haben sowohl die Schule als auch den Kindergarten zerstört. Mindestens sieben Menschen sind dabei gestorben.

In seinem eigenen Wohnhaus hier im Ort lebt Kyrykowytsch deshalb schon seit März nicht mehr. Er, seine Frau und andere Dorfbewohner sind gemeinsam in einem Haus auf halber Strecke zwischen Mykolajiw und Odessa untergekommen. Trotzdem kehrt der Landwirt beinahe täglich zurück, um nach dem Rechten zu sehen, um der Arbeit nachzugehen, mit kleinen Aufräumarbeiten zu beginnen. Mit ruhiger Miene bückt er sich und fischt eine Raketenspitze aus dem Gras neben dem Gehweg. Er deutet mit dem Zeigefinger auf die Zeitsteuerung auf dem Zünder, die die russischen Soldaten vor dem Start der Rakete mit Streumunition händisch einstellten. 52 Sekunden, sagt Kyrykowytsch, so nah sind die russischen Truppen. Und die Hoffnung auf die von ukrainischer Seite angekündigte Gegenoffensive sowie die Rückeroberung der Stadt Cherson dementsprechend groß.

Iwan Kyrykowytsch mit einer russischen Raketenspitze, die er neben dem Gehweg gefunden hat.

"Das ist erst der Anfang"

Das besetzte Cherson auf der Westseite des Flusses Dnipro fungiere wie ein Flaschenkorken für die Krim, erklärt Dmytro Pletentschuk, Sprecher der regionalen Militärverwaltung von Mykolajiw, die strategische Bedeutung der Stadt. "Die Krim ist längst zur eigentlichen Militärbasis der Russen geworden." Die russische Führung hat wiederholt signalisiert, am 11. September zeitgleich zu den Regionalwahlen Scheinreferenden in den russisch besetzten Regionen Cherson und Saporischschja abhalten zu wollen.

"Putin und seine Regierung sind Geiseln ihrer eigenen Propaganda. Sie müssen einen Sieg erringen, den sie ihrem Volk zeigen können", so Pletentschuk. "Doch das Einzige, was sie momentan hier im Süden machen können, ist, unsere Region und Städte aus der Distanz zu bombardieren." Nachdem die ukrainische Armee vor einigen Wochen die für die russische Logistik strategisch bedeutsame Antoniwka-Brücke in der Nähe der Stadt Cherson schwer beschädigt hatte, wurde am Dienstag eine Luftwaffenbasis auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim von heftigen Explosionen erschüttert. "Das ist erst der Anfang", vermeldete der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Dienstag auf Twitter.

Hoffnungsvoll, aber realistisch – so gibt sich Bauer Kyrykowytsch, der die Russen Ende Februar in der Straße neben seinem Hof mit eigenen Augen gesehen hat. Er scrollt durch seine Handyaufnahmen auf der Suche nach einem weiteren Video, das zeigt, wie er und andere Bauern breit grinsend neben einem russischen Rüstfahrzeug posieren, das sie zuvor abgeschleppt, anschließend versteckt und am Ende angezündet haben. Während der Papierkalender in seiner Küche noch ein Datum aus dem April anzeigt und in der Ferne Explosionen diesen Augustnachmittag begleiten, lächelt Bauer Kyrykowytsch stolz ob dieses kurzen Moments der Freude. "Ich kann nicht glauben, dass wir bald ein halbes Jahr Krieg haben." (Daniela Prugger aus Selenyj Haj, 11.8.2022)