Wo ein Wille ist, da ist ein Weg: Der über 90-jährige Tom (Timothy Spall) fährt mit dem Bus quer durchs UK.

Foto: Polyfilm

Alte Männer, die sich noch einmal auf das Schlachtfeld des Straßenverkehrs wagen, genießen das Privileg der Langsamkeit. Ihre Bedächtigkeit, hinter der sich oft auch nur Unsicherheit verbirgt, bringt den gewohnten Kreislauf ins Stocken. Den ultimativen Film über Slow Travel hat David Lynch bereits 1999 mit The Straight Story realisiert, in dem sich ein 73-jähriger Pensionär auf einem Rasenmäher auf die Reise zu seinem fast 400 Kilometer entfernten Bruder macht.

Filmcoopi Zürich

Mit dem vom britischen Charakterdarsteller Timothy Spall verkörperten Tom, der bereits im Alter von 15 Jahren im Zweiten Weltkrieg diente, gibt es nun einen noch älteren Herausforderer in Sachen Entschleunigung. Der etwas tattrige, aber willensstarke Mann im Tweed fährt jedoch mit dem Bus – und zwar von John o’ Groats, dem nordöstlichsten Punkt Schottlands, nach Land’s End in Cornwall, ganz im Südwesten.

Er hat sich eine Route ins Notizbüchlein gekritzelt, die mehrere Umstiege und Übernachtungen vorsieht und zugleich durch die eigene Erinnerung führt. Vor einer halben Ewigkeit ist er die umgekehrte Route mit seiner Frau Mary (Phyllis Logan) gereist. Die Gründe für die damalige Abkehr von der Heimat waren keine erfreulichen.

The Last Bus (weitschweifiger deutscher Titel: Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr) bewegt sich damit stets in zwei Richtungen zugleich. Das zögerliche, beständig durch Unterbrechungen gekennzeichnete Vorankommen Toms in der Gegenwart wird immer wieder von Flashbacks flankiert, die in die Vergangenheit führen und damit seine persönlichen Motive erklären helfen.

Vermeintlich verdrießlich

Ergiebiger ist ersterer Trip, weil er zu einer Vielzahl an menschlichen Begegnungen veranlasst. Tom wird mit einer Gegenwart Großbritanniens konfrontiert, an die er schon vor gefühlten dreißig Jahren den Anschluss verloren hat. Das hindert den rüstigen Alten mit dem nur auf den ersten Blick miesepetrigen Gesichtsausdruck – man denkt unweigerlich an Tex Averys Cartoon-Hund Drops – jedoch nicht daran, mit höflichem Nachdruck zu interagieren.

Als ein junger Mann im Bus eine Frau in Niqab anpöbelt, ist Tom der Einzige, der diesen mit den richtigen Worten zurechtweist. Seine Autorität kommt im Gewand der Freundlichkeit daher. Sie wird jedoch niemandem mehr zur Last als ihm selbst, denn Tom hat es eilig. Feierlaunige Ukrainer oder ein Künstlerpärchen – der Film stellt sein Bild von gesellschaftlicher Diversität etwas ostentativ zur Schau – bringen ihn unter Zeitdruck.

Mit einem Bein woanders

Regisseur Gillies MacKinnon vermeidet Momente, die Tom selbst zu einer Art Einkehr bewegen würden. Er sagt nur noch ein paar "goodbyes", denn eigentlich ist er mit einem Bein schon woanders, bei seiner Frau, die vor kurzem gestorben ist. Wie ein Gespenst der Erinnerung meint er sie auf den Straßen zu erspähen, oder wir sehen die beiden als junges Paar vorüberziehen. Ein Mittel, das den Film die Grenze zur Sentimentalität ein paar Mal zu oft durchstoßen lässt.

Dass man sich der rührenden Dickköpfigkeit Toms und seiner Abschiedstour trotzdem nicht ganz erfolgreich entziehen kann, liegt an Spall, dem eigentlich erst 65-jährigen Stammschauspieler von Mike Leigh, der einen mit den kleinsten Regungen seines Knautschgesichts überrumpeln kann. (Dominik Kamalzadeh, 11.8.2022)