Der in der Seine verirrte Belugawal überlebte trotz großer Anstrengungen nicht. Doch wie kam er in diese Lage?
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Im Herbst 2018 suchte sich ein einzelner Belugawal ein ungewöhnliches Jagdgebiet: Der weiße Zahnwal ging im Mündungsgebiet der Themse auf Futtersuche und schwamm flussaufwärts. Das Tier blieb nicht unbemerkt: Schnell gingen Videos des Wals um die Welt, ein Name war auch schnell gefunden: Benny der Belugawal war eine kleine Sensation. Das offenbar gesunde Tier verschwand nach drei Monaten wieder aus dem Fluss. Trotz der unzähligen Schiffe, die Walen gefährlich werden können, hat Benny seinen Ausflug in die Themse wohlbehalten überstanden.

Für zwei andere Wale ging ein ähnliches Abenteuer weniger glimpflich aus. Erst im Mai verhungerte ein Orca, der wochenlang in der Seine schwamm. Gestern musste dann ein Belugawal eingeschläfert werden, der seit einer Woche in dem französischen Strom festsaß. Nachdem das Tier in einer spektakulären Aktion 70 Kilometer vor Paris aus dem Fluss gehoben worden war, hätte es sich eigentlich in einem Meerwasserbecken von den Strapazen erholen sollen. Doch wie sich zeigte, war das Tier stark abgemagert und bereits zu geschwächt – die Retter beschlossen daher, dem Leiden des Wals ein Ende zu setzen.

Wandernde Wale

Angesichts dieser Tragödien fragt sich, wieso Wale überhaupt in Flüsse schwimmen und dann nicht mehr auf eigene Faust zurück ins Meer finden. "Zunächst sollte man wissen, dass Belugas wandernde Tiere sind, die oft neue Gebiete erkunden. Dass sie dabei in Flüsse schwimmen, kann vorkommen und ist an sich normal. Gerade Belugas sind auch Brackwasser gewöhnt und leben etwa an der Mündung des kanadischen Sankt-Lorenz-Stroms", sagt Guido Dehnhardt, Professor für sensorische und kognitive Ökologie an der Universität Rostock.

Wandeln sich die Lebensräume der Wale, beginnen einzelne Tiere nach Alternativen zu suchen und können dabei auch große Distanzen zurücklegen. Selbst die arktischen Belugawale können so südliche Gefilde aufsuchen. Doch dabei handle es sich zunächst um eine natürliche Strategie, sich an Veränderungen anzupassen, wie Dehnhardt betont. Einige Tiere finden erfolgreich neue Lebensräume, während die Wanderung für manche Exemplare tragisch endet.

Auf dem Transport in ein Meerwasserbecken traten bei dem Beluga Atembeschwerden auf, das Tier wurde daraufhin eingeschläfert.
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Vereinzelte Meeressäuger

In Zeiten von Überfischung und Klimawandel geht die Veränderung der Lebensumstände der Wale allerdings sehr schnell vonstatten. Möglicherweise trägt das dazu bei, dass in den letzten Jahren häufiger Wale in Flüsse schwammen. Neben natürlichen Wanderbewegungen könnte aber auch andere Faktoren Wale in die Arme der Fließgewässer treiben: "Bei den verirrten Walen handelt es sich oft um junge, unerfahrene Tiere oder generell um Wale, die durch Stürme, aber auch durch menschliche Aktivitäten von ihrer Gruppe getrennt wurden", erklärt Tamara Narganes-Homfeldt. Die Meeresbiologin arbeitet für die internationale Wal- und Delfinschutzorganisation WDC.

Auch kranke Tiere würden sich von ihren Artgenossen entfernen und in Flüsse gelangen. Doch warum verlieren die Meeressäuger dort die Orientierung? Könnte der dort allgegenwärtige Lärm von Schiffsmotoren die empfindliche Echoortung der Wale durcheinanderbringen? Die Vermutung scheint zunächst gerechtfertigt: Die Tiere nutzen ihre Schallortung, um sich zu orientieren und Beute zu jagen. "Ihre Ohren sind für Zahnwale wie Augen für uns Menschen", sagt Narganes-Homfeldt.

Orientierungslos im Fluss

Dennoch scheint unwahrscheinlich, dass Motorengeräusche die Tiere so nachhaltig die Orientierung verlieren lassen: "Dieser Lärm ist sehr tieffrequent, wahrscheinlich nehmen die Belugas ihn nicht stark wahr, denn ihr Echolot arbeitet mit viel höheren Frequenzen. Hier bei mir in Rostock scheinen die Schweinswale von den Containerschiffen im Hafen nicht gestört zu werden", gibt Dehnhardt zu bedenken.

Der Motorenlärm stellt also keine große Gefahr für Flüsse besuchende Wale dar. Gesunde Tiere haben darüber hinaus keine Schwierigkeiten, den lauten Schiffen auszuweichen, und laufen kaum Gefahr, von Kielen oder Schiffsschrauben erfasst zu werden. In Flüssen haben Wale eher mit Futtermangel zu kämpfen: "Flüsse bieten Walen oft keine Nahrungsquellen, sind sie zudem krank, können sie nicht mehr jagen", sagt Narganes-Homfeldt. Während die Nahrungssituation anderen Walarten zum Verhängnis werden kann, ist sie für Belugas wohl weniger dramatisch. Dehnhardt: "Belugas ernähren sich sehr vielseitig, sie wühlen auch mal im Meeresgrund nach Nahrung. Warum sollten sie also in Flüssen nichts finden?"

Während ausgewachsene Belugas weiß sind, haben ihre Kälber eine graue Färbung.
Foto: Shedd Aquarium/Brenna Hernande

Krankheit wahrscheinlichste Ursache

Für den Rostocker Biologen ist die beste Erklärung für die Bredouille mancher Wale, dass es sich um kranke Tiere handelt: Zunächst verirren sie sich in Flüsse, verlieren die Orientierung und wissen nicht mehr, wo das Meer liegt. Sind die angeschlagenen Tiere dann zu schwach, um auf Futtersuche zu gehen, endet das Fluss-Abenteuer tödlich. "Nicht jedes Unglück ist menschengemacht: Schon Aristoteles hat Massenstrandungen von Walen beschrieben. Wir dürfen natürliche Einflüsse nicht aus den Augen verlieren", meint Dehnhardt.

Die konkreten Gründe, die die beiden Wale zu ihrer verhängnisvollen Reise in die Seine bewogen haben, sind nicht abschließend geklärt. Beide Meeressäuger werden nun untersucht, um die Ursache für ihre Odyssee zu finden. Vielleicht können diese Erkenntnisse dazu beitragen, ihr Schicksal anderen Walen zu ersparen. (Dorian Schiffer, 11.8.2022)