Mehr als eine Woche schipperte die überfüllte Geo Barents in Warteposition vor Europas Küste. Nach mehreren Rettungseinsätzen im zentralen Mittelmeer hatte das Hilfsschiff 659 Migranten und Flüchtlinge an Bord – unter ihnen mehr als 150 Minderjährige sowie zwei Schwangere und mehrere Kleinkinder. Appelle an die europäischen Küstenstaaten, einen sicheren Hafen zur Verfügung zu stellen, scheiterten. Schlussendlich durfte die Geo Barents in Taranto, Apulien, einlaufen.

"Das darf nie wieder passieren", twitterte die medizinische Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) daraufhin, die das Rettungsschiff betreibt. Doch ist anzunehmen, dass das ein frommer Wunsch bleibt. Denn seit die europäische Seenotrettungsmission Mare Nostrum 2014 durch den Einsatz "Triton" der EU-Grenzschützer ersetzt wurde, nahm die Bereitschaft der Küstenwachen ab, Seenotrettungen von privaten Schiffen zu koordinieren und abzuschließen. Abkommen mit dem bürgerkriegsgebeutelten Libyen sollten sicherstellen, dass Gerettete in das nordafrikanische Land zurückgebracht werden konnten. Dort erwartet sie Folter und Misshandlungen in den Lagern.

Vor allem in den Sommermonaten wagen die Menschen die gefährliche Überfahrt.
Foto: AP / Andoni Lubaki

Florian Prechter, Schiffsarzt auf der Geo Barents, berichtet von überfüllten Booten mit teilweise über 200 Menschen an Bord. Umgebaute Fischerboote, die dutzende Geflüchtete transportieren. Und Rettungen, die teilweise zu Leichenbergungen mutierten, weil sich bereits zahlreiche Tote im Meer befanden.

Verbrennungen

Wo die Menschen ablegen, wissen diese oft selbst nicht. Viele von ihnen in Libyen, "aber viele werden tagelang von den Schleppern an ihnen unbekannten Orten festgehalten und in der Nacht zu den Booten gebracht", erzählt Prechter am Telefon. Jene, die die gefährliche Überfahrt schaffen oder von Schiffen aufgelesen werden, haben oft schwere Verbrennungen durch Treibstoff, der sich mit dem Meereswasser mischt. "Solche Verletzungen sind schwer zu behandeln und sehr materialintensiv", sagt der Arzt. Zudem würden viele Gerettete Hautverletzungen, Abszesse und Folterverletzungen aufweisen.

Auch die Crew des Rettungsschiffs Ocean Viking verzeichnet einen Anstieg bei den Rettungen. "Der Juli war besonders stressig für die Such- und Rettungsorganisationen", schreibt Claire Juchat von der NGO SOS Mediterranée. Mehr als 1500 Menschen waren es insgesamt. Erst Ende Juli brachte allein die Ocean Viking knapp 380 Migranten und Flüchtlinge nach Tagen auf dem Meer in den Hafen von Salerno südlich von Neapel.

Grafik: DER STANDARD

Salvini auf Lampedusa

Da vor allem italienische Häfen am Ende die Geretteten an Land gehen lassen, hat sich die politische Rechte Italiens auf das Thema illegale Migration eingeschossen. Ex-Innenminister Matteo Salvini besuchte auf seiner Wahlkampftour Lampedusa, dessen Bevölkerung 2016 aufgrund ihrer offenen Haltung den Geretteten gegenüber für den Friedensnobelpreis gehandelt worden war.

Jahre später hat sich der Wind gedreht. Das Erstaufnahmezentrum ist wieder überfüllt. Es wäre Platz für 350 Personen. Mehr als 2000 Flüchtlinge und Migranten waren Anfang August dort. Die italienische Regierung siedelt nun hunderte Personen auf Fähren und Küstenwachenschiffe. Auch die Spitzenkandidatin der rechtspopulistischen Partei Fratelli d’Italia, Giorgia Meloni, schürt die Stimmung gegen Einwanderung: Man solle Migranten in ihre Länder zurückbringen und die Schiffe versenken, die sie gerettet haben.

Wenige NGO-Rettungen

Und das sind zum Großteil keine NGO-Schiffe. Eine Grafik des italienischen Thinktanks ISPI zeigt, dass 86 Prozent aller Geflüchteten, die im ersten Halbjahr in Italien gelandet sind, entweder autonom oder mit Schiffen der Küstenwache oder Handelsschiffen angekommen sind. Zahlen, die sich konstant durch die vergangenen Jahre ziehen. Denn auch unter Innenminister Salvini kamen nur zwölf Prozent aller Flüchtlinge und Migranten mit NGO-Schiffen.

Gestiegen sind die Todeszahlen. Im Vorjahr starben laut UN-Flüchtlingshochkommissariat 3200 Menschen im Mittelmeer. Das Jahr davor waren es noch 1800 und davor 1500. Doch das sind nur die Zahlen, die dokumentiert werden konnten. (Bianca Blei, 12.8.2022)