Distanz spielt keine Rolle: Online Friedhöfe sind digitale Trauerstätten

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"Trauer ist Liebe, die heimatlos geworden ist" – zugegeben, es versprüht ein bisschen Wandtattoo-Flair. Aber auch wenn der kursive Schriftzug nicht unbedingt über meiner Couch kleben muss, der Spruch hat einen wahren Kern. In Zeiten der steigenden Mietpreise und der Immobilienknappheit wohin mit der heimatlosen Liebe?

Die Antwort ist – wie bei so vielen Fragen – das Internet. Trauer- und Gedenkwebseiten sind ein nicht ganz neues Phänomen und wollen als digitales Auffangbecken für Hinterbliebene fungieren. Das österreichische Portal aspetos.at zum Beispiel fasst sein Vorhaben in zwei Zeilen zusammen und sieht sich als Netzwerk, das "Todesfälle verzeichnet, Erinnerungen sichert, Menschen auf dem Weg durch die Trauer verbindet und das Thema Leben und Tod in der Gesellschaft integriert". Diesen sehr persönlichen Trauerprozess in der Öffentlichkeit (im Internet!) zu teilen, erscheint dabei ein wenig kontraintuitiv.

Trauerportale bieten vielfältiges Angebot, oftmals nicht nur für online sondern auch offline Trauer
Foto: aspetos.at

Sehr Personal Tech

Um sich mit Trauer auszukennen, muss man kein Experte sein, ja meistens geschieht die Auseinandersetzung auch nicht freiwillig. Mit zwölf Jahren habe ich meinen Vater an Krebs verloren. Ich kenne also den emotionalen und physischen Schmerz, den Verlust auslöst, und habe mich mit dem Thema Trauerverarbeitung gezwungenermaßen praktisch auseinandergesetzt. Von Trauerseiten habe ich damals nichts gewusst, aber jetzt haben sie mein Interesse geweckt. Diese Online-Friedhöfe bieten verschiedene Hilfestellungen, in Form von Ratgebern, Foren oder einer zentralisierten Anlaufstelle für Informationen zur Bestattung. Der Fokuspunkt sind aber die Gedenkseiten und Todesanzeigen – in Social-Media-Lingo: die Profile der Verstorbenen. Diese Gedenkseiten werden von den Hinterbliebenen für ihre Liebsten erstellt, bieten einen Raum, um Kondolenz zu bezeugen, und laden ein, sich zu erinnern.

Die Erinnerung lassen sich einige Gedenkwebseiten aber etwas kosten. Nun kann man argumentieren, dass Grabpflege Geld kostet und der Online-Friedhof eben auch. Ein gewisser fahler Beigeschmack bleibt jedoch bei dem Gedanken, Menschen, die unbezahlbar für einen sind, für 89,90 Euro im Jahr digital am Leben zu erhalten.

Kondolenz und Likes

Während der Lockdowns zur Pandemiebekämpfung war es schwierig bis gesetzlich verboten, nach Todesfällen persönlichen Beistand zu leisten. Gedenkseiten haben schon lange davor erkannt, dass Distanz kein Hindernis sein sollte und Trauerprozesse Modernisierung bedürfen. Aufrichtige Anteilnahme kann man in den Portalen daher in Form von digitalen Blumen oder Kerzen aussprechen.

Beim Durchschauen der Todesanzeigen fällt mir auf, dass an einigen digitalen Gräbern mehr niedergelegt wurde als an anderen. An einem gänzlich leeren Grab hinterließ ich dann eine Sonnenblume – aber warum? Die verstorbene Person wird von dem Blumenschmuck nicht viel haben, und mit dem Argument "der Gedanke zählt" stille ich nur mein eigenes schlechtes Gewissen. Die Irrationalität jenes schlechten Gewissens ist mir bewusst. Die "Umso mehr Blumen, umso besser"-Ratio ist angelerntes Verhalten durch soziale Plattformen: umso mehr Likes, umso besser.

Bei den digitalen Blumen und Kerzen kann man kostenfreie und kostenpflichtige Varianten wählen
Foto: aspetos.at

In Erinnerung an ...

"Nach einem langen und erfüllten Leben friedlich entschlafen", auf diese Zeilen stoße ich auf den Gedenkwebseiten am verhältnismäßig liebsten. Die relativ klar definierte Zielgruppe der Traueranzeigen sind primär, aber nicht ausschließlich Menschen fortgeschrittenen Alters. Diese Voraussetzung macht die inhärente digitale Komponente der Trauerportale interessant. Mein 90-jähriger Großvater googelt zwar täglich den Goldkurs und macht seinen Steuerausgleich online, ob er sich bewogen fühlt, durch Trauerseiten zu scrollen, zweifle ich allerdings an. Wenn die Trauernden also nicht mit der Technologie umgehen können, macht das diese im Umkehrschluss obsolet. Darüber hinaus ist es fraglich, wie gern Menschen per Mausklick an die eigene Sterblichkeit erinnert werden.

Und apropos erinnern: "Was einmal im Internet ist, bleibt im Internet", und das mit der Unvergänglichkeit ist so eine Sache, vor allem wenn man versucht, Trauer zu verarbeiten. Der Gedanke, einen ewigwährenden Ort zu schaffen, an dem man Erinnerungen an seine verstorbenen Liebsten aufbewahrt, ist für mich also ambivalenter Natur.

In Liebe und Dankbarkeit

Am Ende des Tages (und Lebens) gibt es kein richtiges oder falsches Trauern, kein 0 oder 1. Zahlen und Likes, welche schon zu Lebzeiten unwichtig sind, werden völlig bedeutungslos. Wesentlicher ist, dass Trauer – und die Verarbeitung ebenjener – keiner Rechtfertigung bedarf. Manchmal braucht die heimatlose Liebe einfach ein bisschen mehr Platz, und davon gibt es im Internet wohl genug. (Sophie M. Werner, 14.8.2022)