Die sommerlichen Eisflächen des Arktischen Ozeans schwinden – und damit auch der Rückstrahlungseffekt.

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Nirgendwo auf dem Planeten schreitet der Klimawandel so rasant voran wie in der Arktis. Die nördliche Polarregion erwärmt sich viel schneller als der Rest der Welt, wie nicht zuletzt der seit Jahrzehnten dokumentierte Rückgang der arktischen Eismassen verdeutlicht. Einer neuen Studie zufolge wurde das Ausmaß der Erwärmung in den nördlichen Breiten aber noch deutlich unterschätzt.

Wie ein finnisch-norwegisches Forschungsteam berichtet, hat sich die Arktis in den vergangenen vier Jahrzehnten fast viermal so stark aufgeheizt wie die Erde im Durchschnitt. Bisherige Klimamodelle hätten diese Entwicklung unterschätzt, meist sei von einer zwei- bis dreifachen Erwärmung ausgegangen worden. Die Folgen würden aber weit über den Polarkreis hinausreichen, schreiben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter.

Für die Studie im Fachjournal "Communications Earth & Environment" wertete das Team um Mika Rantanen vom Finnischen Meteorologischen Institut Daten zur Arktis von 1979 bis 2021 neu aus. "Wir haben uns auf den Zeitraum seit 1979 konzentriert, weil die Beobachtungen ab diesem Jahr dank Satellitenaufnahmen zuverlässiger sind und weil die starke Erwärmung der Region in den 1970er-Jahren begann", sagt Rantanen.

Schlimmer als befürchtet

Das Ergebnis übertrifft die Befürchtungen: Die Temperatur stieg demnach in einem großen Teil des Arktischen Ozeans um etwa 0,75 Grad Celsius pro Dekade und damit viermal schneller als im globalen Durchschnitt. Noch dramatischer ist die Entwicklung in Regionen wie der Barentssee, nördlich von Norwegen und dem europäischen Teil Russlands – hier ist die Durchschnittstemperatur sogar siebenmal schneller gestiegen.

Schon lange gilt die Arktis als Epizentrum des Klimawandels. Der im globalen Vergleich viel rasantere Temperaturanstieg geht maßgeblich auf die sogenannte polare Verstärkung zurück, für die unterschiedliche physikalische Prozesse verantwortlich sind. So heizt der fortschreitende Eisverlust selbst die Erwärmung immer weiter an. Denn die helle Oberfläche von Schnee und Eis reflektiert Teile des Sonnenlichts zurück ins All und reduziert damit die Erwärmung. Schrumpft die Eisfläche, wird mehr Strahlung absorbiert. Dieser Faktor könnte angesichts des schnellen Meereisschwunds der vergangenen Jahre bereits stärker zu Buche schlagen als angenommen, vermutet das Forschungsteam.

Hinzu kommen atmosphärische Rückkopplungseffekte und die Zunahme von Wasserdampf, die wiederum den Treibhauseffekt und damit den globalen Klimawandel verstärken. Was in der Arktis passiert, bleibt eben nicht in der Arktis.

Die Folgen der Schmelze für das globale Klima und Wetter sind enorm: Über Zirkulationssysteme in der Atmosphäre und im Ozean kurbelt der Eisrückgang nicht nur den Klimawandel an, sondern führt auch zu einer Zunahme von Extremwetterereignissen.

Globale Wetterküche

Expertinnen und Experten sprechen mit Blick auf den Norden von einer globalen "Wetterküche", die in Modellen schwer abzubilden ist. Denn die Arktis ist nicht nur heute schon am stärksten von der Erderwärmung betroffen, sondern auch jene Weltregion, für die es die größten Unsicherheiten in den wissenschaftlichen Klimasimulationen gibt.

Die Prognosen, wie es um die Polarregion am Ende des Jahrhunderts schlimmstenfalls stehen könnte, reichen von einem Plus von optimistischen sechs bis zu katastrophalen 15 Grad Celsius. Zum komplexen Zusammenspiel zwischen Ozean, Eis und Atmosphäre kommen weitere schwer berechenbare Faktoren hinzu: Zum einen schlummern in den gefrorenen Böden des Nordens gigantische Mengen an Kohlenstoff. Durch steigende Temperaturen taut immer mehr Permafrost auf und setzt Klimagase frei. Andererseits bilden auch gefrorene Methanlagerstätten im Arktischen Ozean bei steigenden Temperaturen eine potenzielle Emissionsquelle, die für Unsicherheit in den Modellen sorgt.

Wenn durch die Erwärmung immer mehr Treibhausgase aus diesen Quellen entweichen, kurbeln diese den Klimawandel weiter an und beschleunigen die eigenen Emissionen zusätzlich. Ein solcher Kipppunkt wäre unumkehrbar – wie nahe wir diesem Szenario bereits sind, ist nicht geklärt.

Polarstern in See

Mika Rantanen und seinem Team zufolge dürfte der Effekt der polaren Verstärkung durch den Eisschwund bislang unterschätzt worden sein. Um die Prognosen zu verbessern, sei dringend mehr Forschung nötig. Um die Klimamodelle zu verbessern, braucht es ein besseres Verständnis der komplexen Vorgänge in dieser nach wie vor unwirtlichen Region der Erde – und neben Satellitenbeobachtungen auch eine möglichst umfangreiche Datensammlung vor Ort.

Mit genau diesem Ziel ist Ende Juni das deutsche Forschungsschiff Polarstern zu einer weiteren Arktisexpedition in See gestochen. Die Forscherinnen und Forscher wollen untersuchen, wie Wärmeflüsse und Wasserschichtung im Arktischen Ozean miteinander wechselwirken und wie sich die Erwärmung der Atlantikwasserzirkulation auf marine Gletscher in Grönland auswirkt.

Sommerlicher Meereisschwund um 40 Prozent

Die polare Reise wird immer weniger beschwerlich: Die sommerliche Ausdehnung des Meereises ist in den vergangenen vier Jahrzehnten um 40 Prozent zurückgegangen, wo es früher stets dickes Eis zu brechen galt, erstrecken sich zunehmend offene Wasserflächen. 2020 dokumentierte die Polarstern einen Negativrekord, das Meereis in der zentralen Arktis hatte sich schneller zurückgezogen als je zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen. In diesem Jahr dürfte die Meereisausdehnung wieder etwas zugenommen haben, abschließende Daten liegen noch nicht vor.

Welche Folgen das vollständige Verschwinden des arktischen Meereises im Sommer hätte, was bis Mitte des Jahrhunderts der Fall sein könnte, hat ein Team vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung berechnet: Bei der heutigen CO2-Konzentration in der Atmosphäre wäre mit einer zusätzlichen globalen Erwärmung um 0,2 Grad Celsius zu rechnen. (David Rennert, 11.8.2022)