Ein Jahr nach der Machtübernahme der radikalislamistischen Taliban ist Ali Maisam Nazary guter Dinge. Er ist sogar überzeugt davon, dass die Nationale Widerstandsfront von Afghanistan (NRF) das Land zurückerobern wird. Der für die Außenbeziehungen der Allianz der Taliban-Gegner zuständige Afghane erklärt im STANDARD-Gespräch den vereinfachten Drei-Stufen-Plan: Vor dem Beginn einer Rückeroberung von Landesteilen und der endgültigen Befreiung Afghanistans gelte es, einen "unkonventionellen Ermüdungskrieg" gegen die Taliban zu führen. Trotz fehlender internationaler Unterstützung zeige dieser Wirkung.

War man vor einem Jahr, als US- und Nato-Truppen schlagartig das Land verließen und den Weg für die Taliban ebneten, nur in zwei Provinzen präsent, so hätte die Front mittlerweile Unterstützer in zwölf Provinzen – und es werden immer mehr. In der Hälfte davon bekämpfe man die Taliban aktiv, so Nazary. Im Norden hätten NRF-Kämpfer den Taliban gar eine "strategische Niederlage" zugefügt.

Die Taliban verstehen, dass sie in absehbarer Zeit nicht ganz Afghanistan beherrschen und kontrollieren können.
– Ali Maisam Nazary

Nazary sieht diese Kämpfe als "Fortsetzung des globalen Kampfes gegen den Terror", den westliche Staaten mit ihrem Abzug aufgegeben hätten – zumindest in Afghanistan, wo nach mehr als 20 Jahren US-geführte Intervention immer noch der Terror regiert. Neben regelmäßigen Anschlägen des "Islamischen Staates" (IS) sollen sich rund 13.000 Foreign Terrorist Fighters im Land niedergelassen haben. Am Donnerstag wurde bei einem Selbstmordattentat der führende Taliban-Geistliche, Scheich Rahimullah Haqqani, getötet.

DER STANDARD

Wer dahintersteckt, war zunächst unklar. Auch der IS-Gegenspieler Al-Kaida ist präsent, wie die Tötung von Chef Ayman al-Zawahiri mitten in Kabul durch eine US-Drohne Anfang August zeigte. Er wohnte offenbar bei einem hochrangigen Talib und soll von der Regierung mindestens geduldet worden sein.

Widerstand im Norden

Die Hochburg der Widerstandsfront ist das nördlich von der Hauptstadt Kabul gelegene Pandschschirtal – wie auch vor mehr als 20 Jahren, als die Taliban schon einmal das Land regierten (1996–2001). Es wurde damals nie eingenommen. Im Vorjahr wehrte es die Taliban-Kämpfer am längsten ab – letztendlich vergeblich. Von andauerndem Widerstand vor Ort, wie ihn auch Nazary schildert, wollen die Taliban aber nichts wissen: Berichte über Angriffe und Folter gegen Unterstützer des Widerstands werden dementiert, und nur geführte Journalistenbesuche zugelassen. Die "Washington Post" spricht von einem "geheimen Krieg" im Tal.

Ein Talibankämpfer im Pandschschirtal.
Foto: Wakil KOHSAR / AFP

Auch Tooba Lutfi kann nicht mehr ins Pandschirtal, wo ihre Familie herstammt. Die 36-Jährige klärte dort jahrelang für NGOs über Menschen- und Frauenrechte auf. Wie Hunderttausende flüchtete sie angesichts des Taliban-Vormarschs dann vor rund einem Jahr nach Kabul. Dass die Stadt in nur wenigen Tagen – noch dazu quasi kampflos – fallen würde, konnte sie sich nicht vorstellen.

Doch am 15. August 2021 kam es bekanntlich anders. Lutfi suchte Zuflucht bei ihrer Mutter unweit des Flughafens, wo sich chaotische Szenen bei der Evakuierung abspielten: Damals gingen Bilder um die Welt von Menschen, die sich in Panik an startende Flugzeuge klammerten und in den Tod stürzten. Lutfi traute sich erst wieder sechs Tage später auf den Balkon. Und dann sogar auf die Straßen, um gegen die Taliban und ihr brutales Vorgehen im Pandschschirtal zu demonstrieren – bis auch das untersagt und Angehörige verhaftet wurden. Sie seien zu Geständnissen gezwungen worden, wonach sie für die Protestaktion Geld aus dem Ausland erhalten hätten, sagt sie zum STANDARD.

Im Vergleich zu früher sind kaum Frauen auf den Straßen. Außer auf Plakaten und bis auf die Augen verschleiert.
– Tooba Lutfi

Wie für Millionen von Frauen ist Lutfis Leben nach einem Jahr Terrorherrschaft komplett auf den Kopf gestellt: Sie verbringt die meiste Zeit zu Hause. Ihren Job musste sie aufgeben, Schulen wurden für Mädchen ab der sechsten Schulstufe geschlossen. Beinahe wöchentlich hört sie Erzählungen über Gruppenvergewaltigungen oder Frauen, die auf mysteriöse Weise verschwinden. Auch viele Männer würden vermisst: Für deren Frauen, die nicht arbeiten dürfen, sei das fatal.

Protestieren ist für afghanische Frauen extrem gefährlich.
Foto: Wakil KOHSAR / AFP

Anfänglichen Hoffnungen, wonach die Taliban nicht mehr so schlimm wie früher seien, widerspricht Lutfi: "Taliban, das ist eine Ideologie. Ihnen sind Menschenrechte nicht nur egal, sie halten sie für eine Erfindung der Ungläubigen. Dabei wird im Islam die Menschenwürde hochgeschrieben", klagt sie. "Klar können sie auch zuvorkommend sein" – im Grunde seien sie aber so korrupt und brutal wie eh und je. Doch Lutfi glaubt an eine Zeit danach, in der sie sich für ihre Taten verantworten müssen.

Der Doha-Friedensdeal händigte ein ganzes Land dem internationalen Terrorismus aus.
– Ali Maisam Nazary

Am Ende bleibt die Frage, wie es so weit kommen konnte. Nazary sieht im US-Taliban-Friedensdeal von 2020 nicht weniger als "das schlechteste Abkommen der modernen Menschheitsgeschichte", weil es keinerlei Vorteile gebracht habe. Nicht für die Zivilbevölkerung, vor allem nicht für Frauen.

Die Appeasementpolitik des Westens gegenüber den Taliban sei offensichtlich gescheitert, sagt er – und dass mit einer intern zerstrittenen Terrororganisation langfristig keine Politik und kein Staat zu machen sei. (Flora Mory, Fabian Sommavilla, 12.8.2022)