Das letzte Foto, das alle vier Schwestern zusammen zeigt: Susi, Irma, Friedl, Gerda, Ernst und Ilse Benedikt, um 1927.

Foto: Foto: Privatbesitz / Mit Genehmigung des Zsolnay-Verlags

Als Susanne, wenige Monate vor ihrem Tod, im Sommer 2014 Bordeaux besuchte, stieg sie im Hôtel des Quatre Sœurs (Hotel zu den vier Schwestern) ab, ein Zufall gewiss, aber vielleicht auch nicht.

Susanne, geboren am 13. September 1923, ist die jüngste von vier Schwestern aus der Familie Benedikt. Gerda, die älteste, wird am 20. Juni 1915 geboren, Friedl folgt ein Jahr danach am 9. November 1916, Ilse am 14. August 1918. Alle vier Schwestern sind in Wien aufgewachsen, als die Töchter von Irma und Ernst Benedikt. Der Vater war ab 1920 Chefredakteur und Herausgeber der Neuen Freien Presse, Nachfolger seines Vaters Moriz Benedikt, des wohl einflussreichsten und umstrittensten Journalisten der Donaumonarchie.

Himmelstraße, Grinzing

Ihre Heimat war das Haus der Familie in der Himmelstraße in Grinzing, der "Himmel 55", wie Susanne in ihren Erinnerungen den Ort ihrer Kindheit am Fuße des Wienerwalds nennt. Das Haus wurde 1938 arisiert. Dass die vier Grinzinger Kinder jüdischer Herkunft waren, machten ihnen erst die Nazis klar. Alle vier mussten fliehen, um sich zu retten. Ihre Flucht zwischen 1938 und 1939 erfolgte in unterschiedliche Richtungen: Susanne entkam gemeinsam mit den Eltern nach Stockholm, sie lebte danach in Paris, Ilse floh nach Zürich, um zu studieren, Gerda emigrierte nach New York, Friedl nach London.

Die Schwestern in jungen Jahren: Gerda
Foto: Privatbesitz/Zsolnay

Alle vier wählten unterschiedliche Berufe – Schriftstellerin, Sozialarbeiterin, Journalistin, Ärztin –, alle vier hatten unterschiedliche politische Einstellungen und wählten höchst unterschiedliche Partner. Nur eine der Schwestern Benedikt kam nach dem Zweiten Weltkrieg nach Wien zurück, sie stritt über viele Jahre um die Restitution des Hauses der Familie. (…)

Die Idylle täuscht

Das letzte Foto, das die vier Schwestern gemeinsam zeigt, stammt aus den späten 1920er-Jahren. Sie sind noch Kinder. Die Familie Benedikt ist im Wiener Atelier von Hermann Clemens Kosel um einen Tisch versammelt. Das Bild ist geschickt arrangiert, alle Personen sind miteinander verbunden. Die jüngste Tochter Susanne sitzt auf dem Schoß der Mutter Irma, die rechte Hand von Friedl liegt auf der Schulter der Mutter, neben ihr stehend Gerda, sie berührt sanft den Arm ihres Vaters Ernst. Der lächelt zufrieden, seine Hand greift wie zufällig nach der Hasenfigur auf dem Tisch, daneben steht ein kleiner Hahn; Tochter Ilse sitzt entspannt ganz rechts auf der Stuhllehne, den Arm auf der Schulter des Vaters. Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch, um das die ganze Familie gruppiert ist.

Das Bild der adrett gekleideten Familie und der großbürgerlichen Idylle täuscht. Die Neue Freie Presse, die der Vater als Herausgeber und Chefredakteur leitete, steckte in der tiefsten Krise ihres Bestehens, und betrachtet man den skeptischen Blick der beiden älteren Töchter Friedl und Gerda und das etwas bemühte Lächeln der Mutter, lässt sich erahnen, dass das Zusammenleben in der Familie nicht so harmonisch war, wie es uns das Bild weismachen will. (…)

Sehnsucht

Und dennoch: Blättert man in den Briefen, die sich die Schwestern über fünf Jahrzehnte aus der Fremde in die Fremde geschrieben haben, ist vom ersten bis zum letzten von Sehnsucht die Rede. Sehnsucht nach den "gemeinsamen Mittag- und Abendessen", nach den Zeichnungen, die der Vater für die Kinder anfertigte, nach dem Kuchen der Frau Langbein, nach den Klaviersonaten, die am Flügel im großen Salon gespielt wurden. In London träume sie, schreibt Friedl 1941 an Ilse nach Zürich, von daheim, und zwar unheimlich viel vom Haus und vom Garten. (...)

Friedl
Foto: Privatbesitz/Zsolnay

Die Familie des Vaters war wohlhabend. Großvater Moriz Benedikt war als Eigentümer der Neuen Freien Presse, als Börsenspekulant und als Wirtschaftsberater des Kaiserhauses geschäftlich sehr erfolgreich gewesen, 1910 betrug sein Jahreseinkommen mehr als 1,7 Millionen Kronen, es war damit eines der höchsten in der Monarchie.

Auch wenn ein beträchtlicher Teil des Vermögens im Ersten Weltkrieg verloren ging – Benedikt hatte eine große Zahl von Kriegsanleihen gezeichnet – und die Auflage der Presse in den 1920er-Jahren stark rückläufig war, verfügte der Haushalt in der Himmelstraße 55 über Kindermädchen, mehrere Hausangestellte und einen Chauffeur, ab 1934 wurde ein Privatsekretär, der junge Journalist Paul Steiner, angestellt, "für Papa".

Das Haus war nicht elegant und, wie Steiner schreibt, "plan- und stillos" möbliert, doch es war weitläufig, mit vielen Nischen ausgestattet, die Anordnung der Zimmer war unübersichtlich und bot eine Vielzahl von Verstecken. Wie der Garten war es ein Dorado für Kinder. Vom gartenseitigen Vorzimmer führte eine Tür zur linken Hand in die Bibliothek, das Arbeitszimmer des Vaters, in dem er nicht gestört werden durfte, was dennoch häufig geschah. (...)

Tagesablauf

Der Tagesablauf in der Himmelstraße war wenig stabil. Der Vater war Chefredakteur der Neuen Freien Presse, er arbeitete gerne in der Nacht und ging erst in den Morgenstunden zu Bett. Fixe Essenszeiten gab es nicht, zumeist traf die Familie erst gegen Abend zusammen. Die vier Schwestern blieben nach der Schule oft sich selber überlassen. In den Briefen über die Kindheit werden wilde Jagden durch das Haus und den Garten beschrieben, riskante Klettertouren über die Fassade und Erkundungstouren durch die Schubladen der Kommoden, auf der Suche nach verstreutem Kleingeld und nach anderen Dingen, die für Kinder von Interesse waren.

"Stirdeln", das Wort blieb allen geläufig, noch Jahrzehnte nachdem sie ins Englische, Französische oder Schwedische gewechselt hatten und nicht mehr wussten, in welcher Sprache sie geträumt hatten. "Stirdeln" blieb, genauso wie "brodeln", "blödeln", "urassen" und "fabelhaft". (…)

Der Einfluss lebt weiter

Ilse
Foto: Privatbesitz/Zsolnay

Spiele zu können und gut zu spielen war wichtig in der Himmelstraße. Alle vier Schwestern blieben zeitlebens ehrgeizige Kartenspielerinnen, alle beherrschten Schach und wussten unterschiedliche Patiencen zu legen. Am beliebtesten waren Theateraufführungen, Friedl und Gerda belegten alle Rollen. Eine gemeinsame Aufführung der Bremer Stadtmusikanten endete in Schlägen und Tränen. Von allen, auch von den Eltern, gemocht wurde die "Reise nach Jerusalem". Die Stühle wurden aneinandergereiht, bei Bedarf zusätzliche geholt, Ilse und der Vater wechselten sich am Klavier ab. Beim Spiel nahmen auch die weiblichen Hausangestellten teil, die aus der Küche gerufen wurden. Nie der Chauffeur.

Im Tagebuch, das Friedl im Frühjahr 1953 in Paris bis wenige Tage vor ihrem Tod im April im American Hospital führte, findet sich die Matrix eines großen und kleinen Schifferl-versenken-Spiels, die "Seeschlacht". Friedl spielte es mit Susanne, wenn sie zu erschöpft war, um zu sprechen oder zu schreiben. Susanne besuchte die Schwester sechs Wochen lang täglich im Krankenhaus, als es zu Ende ging.

Besuch im Krankenhaus

Ich liebte die Friedl – mit der Ausnahme von [ihrer Tochter] K[arina] – mehr als irgend jemanden anderen. Ich liebte und bewunderte sie und wurde ihre Sklavin. Bis zu ihrem Tod. Sogar darüber hinaus …

Seit dem Tod von Grossmama ein paar Jahre früher war sie das erste und einzige Familienmitglied, welches sich damals um mich kümmerte. Sie übertrug auf mich, was Canetti mit ihr machte. Sie stellte mir richtige Fragen, sie hörte auf die Antworten, sie erinnerte sich an was ich sonst sagte. Sie diskutierte ihre Beziehung zu Canetti mit mir, erzählte mir Geheimnisse, hörte auch meine, und sehr oft gab sie mir Ratschläge über Bücher, wie ich mich benehmen sollte, was mit meinen "Flirts" anfangen, wie mit den Eltern auskommen – kurz, von da an existierte ich für sie.

Ihr Einfluss lebte weiter in mir die acht Jahre hindurch, in denen ich in Finnland und Schweden schwesterlos eine Erwachsene wurde. Als wir uns in Schweden nach dem Krieg wieder sahen, konnten wir die alte Beziehung ganz natürlich wieder aufnehmen. Es war selbstverständlich, dass ich, was ich an Freizeit hatte, hauptsächlich mit ihr, und immer häufiger an ihrem Krankenbett, verbrachte. Es war selbstverständlich, dass ich bei ihr blieb im American Hospital in Paris, bis sie starb. (…)

Grinzinger Kinder

In der Himmelstraße gab es weder einen Chanukkaleuchter noch religiöse Essensvorschriften, noch wurden jüdische Feiertage gefeiert. Gefeiert wurde Weihnachten mit Weihnachtsbaum, Christkind und Weihnachtsliedern. "Ich war nie ein ‚jüdisches‘ Kind, wir waren Grinzinger Kinder. Zu Juden hat uns Hitler gemacht", erinnerte sich Ilse. Alle Mitglieder der Familie wurden zwar in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde als Mitglieder geführt, die Synagoge wurde aber nicht besucht. Jiddeln war selbst bei Witzen verpönt. Die religiösen Regeln und Traditionen waren den Kindern unbekannt.

Susi
Foto: Privatbesitz/Zsolnay

Noch Jahrzehnte später wird sich Susanne über die Heirat ihrer Tochter in der Synagoge in der Rue Copernic lustig machen, und Gerda wird darüber berichten, wie sie dem Ritual bei der jüdischen Hochzeit ihres ältesten Sohnes in New York ratlos gegenüberstand und ihre mütterliche Rolle improvisieren musste. Die einzigen Götter, die in der Himmelstraße verehrt wurden, waren Beethoven und Goethe, Gustav Mahler war als Halbgott akzeptiert. Schönberg, Schiele oder Adolf Loos wurden nicht zur Kenntnis genommen.

Stadtkinder am Land

Die religiöse Tradition hatte sich schon in der Generation der Großeltern langsam verflüchtigt. Aber ganz so klar war die Sache mit der Zurückweisung jüdischer Identität nicht. Als Ilse 1946 aus Zürich nach Wien zurückkehrt, lässt sie – Ärztin, Atheistin und Kommunistin – in ihren Dokumenten "mosaisch" als Religionszugehörigkeit eintragen. Die Schwestern waren Stadtkinder am Land.

Die Bindung der Eltern an die Stadt war eng, täglich fuhr der Vater in die Redaktion, auch die Mutter verbrachte kaum einen Tag daheim. Die Grinzinger Kinder, zu denen Ilse gehören will, gab es allerdings nicht, denn das eine Grinzing gab es nicht. Es gab das bäuerliche Grinzing der alteingesessenen Weinhauerfamilien und Buschenschankbesitzer, es gab ein proletarisches Grinzing in den Arbeiterquartieren und Barackensiedlungen bei den Langen Lüssen am Friedhof, ein kleinbürgerliches Grinzing der Beamten und Gewerbetreibenden und ein großbürgerliches in den Villen der Umgebung.

Die Benedikt-Schwestern gehörten nicht zu den Kindern der Weinbauern und Arbeiterinnen, sie sprachen nicht ihren Dialekt, aber sie trafen sie in der Schule und beim Spiel. "Ottakringerisch" nannte der Vater ihre Sprache, in Unkenntnis jeglichen Dialekts. Für die Schwestern war Grinzing nicht Heimat, sondern Synonym für das Haus in der Himmelstraße, für ein Zuhause-Sein.

Medium der Beschwörung

Ernst Strouhal, "Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt". 28,80 Euro / 416 Seiten. Zsolnay, Wien 2022 (Das Buch erscheint am 22. 8.)
Cover: Zsolnay

Die Erinnerung an das "Viermäderlhaus" verbindet die Schwestern miteinander. Nachdem sich die Schwestern 1938 auf der Flucht vor den Nazis trennen mussten, werden die Briefe das Medium seiner Beschwörung und seiner Rettung in der Erinnerung. "Ach Gott", schreibt die in ihren Briefen für gewöhnlich betont sachliche Ilse 1941 aus Zürich an die Mutter in Stockholm, "Ach Gott, du hast keine Ahnung, was ich für Sehnsucht habe, unterzukriechen, zu wissen, da bist du daheim." Und Gerda gesteht kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Brief aus New York, wie sehr sie sich nach dem Ende der "Schwesternlosigkeit", in die sie verbannt wurde, sehnt.

"Mein Geliebtes, Blödes", schreibt sie 1955 an Susanne in Paris, "du fehlst mir derartig, dass es zum Kotzen ist …" Die "Schwesternsehnsucht" (Gerda), die alle vier in ihren Briefen teilen, und die Erinnerung an die Kindheit verbinden sich allerdings noch Jahrzehnte später bei Ilse mit einer "unbestimmten Angst, die mich an die Zeit erinnert, als wir noch in einem Zimmer geschlafen haben …". Woher die Angst, welche Angst? (Ernst Strouhal, ALBUM, 14.8.2022)