STANDARD: Vor ein paar Jahren hatten Sie noch eine ordentliche Matte bis zum Arsch. Darf ich fragen, ob Sie damals trans empfunden haben?

Kurt Palm: Ob ich was empfunden habe?

STANDARD: Trans?

"Sexueller Missbrauch ist gang und gäbe in unserer Gesellschaft": Kurt Palm.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Palm: Ah so, um Gottes willen, nein! Das hat ganz banale Gründe gehabt. In Strandbadrevolution, meinem vorletzten Buch, gibt es den 17-jährigen Helden, der lange schwarze Haare hat, und beim Schreiben habe ich mich zurückgesehnt und mir gedacht, es wäre doch schön, wieder mal so lange Haare zu haben. Nur, was ich nicht bedacht habe, war, dass erstens meine Haare weiß sind und dass ich zweitens irrsinnig scheiße ausgeschaut habe. Zum Glück habe ich sie mir schneiden lassen, bevor die ganzen Corona-Leugner durch die Stadt gezogen sind, sonst hätte man mich möglicherweise zu denen gezählt, weil die haben ja alle genauso deppert ausgeschaut wie ich damals.

STANDARD: Ein Paar Legwarmers dazu und eine schöne Klangschale ...

Palm: Richtig! Das war jedenfalls so eine Art Geschmacksverirrung, und interessanterweise hat mich keiner aus meinem Umfeld darauf hingewiesen, keiner hat gesagt: Kurt, das schaut scheiße aus. Gott sei Dank hat der Grissemann dann bei Willkommen Österreich zu mir gesagt, ich schau aus wie eine Edelprostituierte. Da hab ich mir dann gedacht, jetzt ist es Zeit, über neue Frisuren nachzudenken.

STANDARD: Sie sind also in Ihrer Identität so weit gefestigt, dass Sie nach wie vor als Kurt Palm veröffentlichen, bei einem neuen Verlag diesmal.

Palm: Die Verlagssuche war nicht so einfach, nachdem mein alter Verlag im Zuge von Sparmaßnahmen liquidiert worden ist. Corona hat ja auch die Verlags- und Theaterlandschaft ordentlich durcheinandergewirbelt, viele Verlage nehmen keine neuen AutorInnen mehr auf. Die Zusammenarbeit mit Leykam ist aber sehr erfreulich, obwohl ich selbst ja kein einfacher Typ bin.

STANDARD: Im nun vorliegenden Buch Der Hai im System haben Sie sich mit aktuellen Themen beschäftigt: Femizid, Sorgerechtsstreitigkeiten, desolatem Schulwesen, toxischer Männlichkeit.

Palm: Ich glaub, dass alle Figuren prototypisch für bestimmte Gruppierungen stehen. Der Amokläufer, der da alleine in seiner Wohnung haust und später zum Gewehr greift, der ist an einem Kipppunkt angelangt, wo es kein Zurück mehr gibt, und ich glaube, dass die große Mehrheit der Leute, die Gesellschaft insgesamt, an so einem Kipppunkt angekommen ist. Die Frage ist, ob der letzte Schritt gemacht wird oder ob das Drama noch irgendwie verhindert werden kann. Ich glaub’s nicht. Ich glaub, das ist schon so eine Art Rutschbahn, auf der wir uns jetzt befinden.

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, dass viele kurz vorm Explodieren sind?

Palm: Absolut. Wenn wir in der Früh aufstehen, betreten wir ein Minenfeld, die Frage ist dann nur: Steigen wir im Laufe des Tages auf eine Mine drauf oder nicht? Die Gesellschaft, wie sie sich entwickelt, marschiert Direttissima auf den Abgrund zu, so seh ich das. Die ganzen Partys, die es jetzt gibt, die Konzerte, das Theater, das ist das letzte Aufbäumen, der Tanz auf dem Vulkan. Es wird, glaube ich, ein böses Erwachen geben. So sollte der Roman ursprünglich auch heißen.

STANDARD: Sind Sie vorsichtiger geworden? Fahren Sie nicht mehr mit der U6? Passen Sie beim Radfahren besser auf?

Palm: (lacht) Na ja, beim Radfahren pass ich sowieso schon sehr auf, weil zu viele verrückte Autofahrer unterwegs sind.

STANDARD: Der Amokläufer reagiert sehr empfindlich auf Lärm: Violine übende Japanerinnen, Heizungsrohre, brummende Kühlschränke …

Palm: Ursprünglich gab es den Plan, einen Monolog zu schreiben, der "Klopfgeräusche" heißen sollte, wo ein Typ wahnsinnig wird von den Geräuschen der Großstadt. Fakt ist, dass der Lärm für zwei Drittel der Menschen ein unglaubliches Problem darstellt, egal wo man wohnt. Am Land ist es nicht besser als in der Stadt, weil wenn dort einer zum Rasenmähen anfängt, wird der Nachbar sofort hysterisch und greift zur Motorsense, der daneben zum Presslufthammer und wiederum der daneben zur Benzinheckenschere.

STANDARD: Die männlichen Figuren in Ihrem Buch tun sich recht schwer mit Frauen.

Palm: Seit 2014 sind in Österreich 270 Frauen größtenteils in ihrem familiären Umfeld ermordet worden. Interessant ist, dass die Frauenmörder heute kaum Einsicht zeigen. Früher war es so, dass einer auch mal schockiert war über die eigene Tat, heute sind die meisten stolz darauf und sagen, das war richtig, die hat sich nicht so verhalten, wie ich das wollte.

STANDARD: "Lange haben sie mich kontrolliert, jetzt kontrolliere ich sie", sagt der Amokläufer.

Palm: Der hat eine Waffe, und Waffe bedeutet Kontrolle.

STANDARD: Er hatte aber auch eine schwierige Kindheit, zusammengefasst in dem schönen Satz: "Schau, dass du weiter kommst!" Zärtlichkeit erlebte er kaum, dafür wurde ihm klassisch übergriffig ans Geschlecht gefasst, von der Mutter, vom Lehrer …

Palm: Sexueller Missbrauch ist gang und gäbe in unserer Gesellschaft. Und Liebesentzug und Empathielosigkeit münden oft in Gewalt.

STANDARD: Einmal heißt es: Was soll ich machen mit 745 Euro Notstandshilfe? Produziert auch Armut Verbrechen?

Palm: Ja sicher. Einerseits ist es so, wie Balzac schreibt, dass hinter jedem großen Vermögen ein Verbrechen steht, das ist ganz klar, dass jeder dieser Milliardäre ein Verbrecher ist. Andererseits gibt es diese enorme Armut, die in der Extremform auch zum Verbrechen führt, weil man gar keine andere Wahl hat.

STANDARD: Und sei es, dass man, wie der Amokläufer, zwei Knacker und ein Ketchup stehlen muss. Sie haben sich auch eingehend mit dem Wurstwesen im Einzelhandel auseinandergesetzt.

Palm: Wenn ich einkaufen gehe, beobachte ich die Leute sehr genau. Grad die Wursttheke ist ein Paradies, was Beobachtungsmöglichkeiten angeht, dieses dauernde "Darf’s ein bisserl mehr sein?". Da steckt ja ein System dahinter! Das bringt der Wurstindustrie bei geschätzten 350.000 verkauften Wurstsemmeln am Tag einen Zusatzgewinn von ein paar Millionen im Jahr.

STANDARD: Wir sind nur noch Konsumenten, die immer mehr konsumieren müssen, und sei es "ein bisserl mehr" Extrawurst?

Palm: Genau. Die Zombifikation ist weit fortgeschritten, der große Traum des Kapitals erfüllt sich. Dabei blutet mir das Herz, denn als ich jung war, habe ich mir gedacht, wenn ich so alt bin wie jetzt, hat die Revolution längst stattgefunden und gesiegt. Stattdessen ist alles viel schlimmer geworden, das Kapital hat das Stadium des globalen Terrors erreicht.

STANDARD: In den Handlungsstrang der Lehrerin Franziska lassen Sie viel heutige Jugendsprache einfließen.

Palm: In der ersten Fassung des Buches habe ich mich der Sprache meiner eigenen Jugend bedient, aber das haben dann Leute gelesen, die ein bisserl jünger sind als ich, und die haben schnell gesagt: Oida! So redet heute keiner mehr! Da hat man mir dann geholfen.

STANDARD: Die Verhältnisse an Wiener Schulen sind sehr realistisch dargestellt. Die "Ausländerkinder" fragen: Warum sollen wir zu Hause Deutsch reden? Die Mutter ist Putzfrau, der Vater am Bau … Die Verhältnisse sind zementiert.

Palm: Dadurch, dass ich selbst aus einer Arbeiterfamilie komme, habe ich ein bisserl einen Blick dafür, und ich kenne ein paar solcher Familien, wo der Mann am Bau arbeitet und die Frau putzt. Und die bleiben immer Hackler, immer Ausländer. Dass es gleiche Chancen für alle gäbe, davon kommen wir immer weiter weg.

STANDARD: Über die Figur des Polizisten handeln Sie dann auch den "Kleinfamilienscheißdreck" ab, in dem ebenfalls viel Gewaltpotenzial brodelt.

Palm: Die Hoffnung auf das kleine Glück, die Enttäuschung, das Betrügen, das Sich-am-anderen-Rächen, das ist der "Kleinfamilienscheißdreck". Der Polizist fantasiert die Gewalt lediglich und bewegt sich dadurch noch im legalen Bereich, während der Amokläufer die Gewalt halt letztlich ausführt und sich dadurch in die Illegalität begibt.

STANDARD: Beide sind eigentlich Feiglinge.

Palm: Der eine mit dem Sturmgewehr, der andere mit der Glock. Es geht bei allen Figuren im Buch auch um Verantwortung, die man nicht übernimmt. Das ist, finde ich, ein Riesenproblem heutzutage. Egal ob in der Politik oder im Privaten, jeder schaut nur noch auf den eigenen Vorteil, es gibt keine Kooperation mehr, kein Sich-auf-etwas-einigen-Wollen, weil man sich auf etwas einigen muss. In letzter Konsequenz führt das zu Gewalt.

STANDARD: Das Buch endet folgerichtig in einem seitenlangen Massaker. Hat es dem Autor Spaß gemacht, auch mal so was zu schreiben?

Palm: Gequält hab ich mich nicht dabei … Es war eine Herausforderung, aber eine interessante. Ich hab mal eine Testlesung gemacht, da gab’s ein bisserl ein Aufheulen, da war das Massaker noch ein bisschen deutlicher. Am Ende weiß man ja gar nicht so genau, wer wirklich stirbt und wer sich in den Tod hineinfantasiert. Ob es Spaß gemacht hat, das zu schreiben? Schwer zu sagen. Der Amoklauf war ja nicht geplant. Plötzlich war die Waffe da … (Manfred Rebhandl, ALBUM, 15.8.2022)