Anna Kims im Suhrkamp-Verlag erschienener Roman Geschichte eines Kindes basiert auf einer wahren Begebenheit.

Foto: Werner Geiger / Suhrkamp Verlag

Der kleine Danny ist ein aufgewecktes Kind, er wird nie krank, ist meist gut gelaunt, weist sogar eine überdurchschnittliche Intelligenz auf. Und doch stellt Danny den Sozialdienst der Erzdiözese, in dessen Obhut er sich befindet, seit seine Mutter ihn sofort nach der Geburt zur Adoption freigab, vor eine Herausforderung.

Denn es ist das Jahr 1953 im US-Bundesstaat Wisconsin, und Danny scheint das zu sein, was man pseudowissenschaftlich als "gemischtrassig" bezeichnet. Oder umgangssprachlich als "Mischling" oder "Mulatte". Die Mutter weigert sich, die Identität des Vaters preiszugeben, und so begibt sich die zuständige, aus Wien stammende Sozialarbeiterin auf die Suche nach jener des Kindes: Ist es "indianisch", "polnisch" oder gar "negrid"?!

Anna Kim, "Geschichte eines Kindes". 23,70 Euro / 2020 Seiten. Suhrkamp, München 2022
Cover: Suhrkamp

Anna Kims im Suhrkamp-Verlag erschienener Roman Geschichte eines Kindes basiert auf einer wahren Begebenheit. Berichtet wird sie von einer Ich-Erzählerin, die deutliche Ähnlichkeiten mit der 1977 in Südkorea geborenen und schon lange in Wien lebenden Autorin selbst hat: einer in der österreichischen Hauptstadt lebenden, südkoreanisch-österreichischen Schriftstellerin, die sich Franziska nennt und 2013 für ein Sommersemester als Writer in Residence an das St. Julian College in Green Bay eingeladen wird.

Von einer Klimaanlage des Grauens aus der Gästewohnung der Universität vertrieben, findet sie Unterschlupf bei einer gewissen Joan Truttman. Eine distanzierte, in ihrem Verhalten bisweilen hochgradig erratische Frau, die sich als Ehefrau eben jenes Danny entpuppt, nach dessen "Herkunft" 1953 so verzweifelt gesucht wurde.

Beste Absichten

Weil die Bevölkerung von Green Bay irrtümlicherweise anfängt zu glauben, der Roman, den Franziska schreibt, handle von Danny, werden sie nach und nach bei ihr vorstellig, um ihre Meinung über ihn und sein Schicksal kundzutun. Auch Joan beginnt ihre Sicht auf die Geschichte zu erzählen.

Nach und nach fügen sich die Puzzleteile zu einem oszillierenden Bild: der beliebte Danny, der seine Andersartigkeit in einer homogen weißen Nachbarschaft gar nicht bemerkte – oder war er nicht unendlich einsam? Danny, der in einer liebevollen Familie aufwuchs. Oder behandelten ihn nicht alle außer seiner Adoptivmutter wie ein Haustier? Danny selbst kann sich dazu nicht äußern, er liegt nach einem Schlaganfall in einem Pflegeheim.

Wie schon in seiner Kindheit wird über ihn geredet, spekuliert. Aus der Akte des Sozialdienstes geht nicht nur hervor, mit welch befremdlichen "wissenschaftlichen" Methoden versucht wird, Genaueres über das Kind zu erfahren, wie die körperlichen Merkmale des Säuglings vermessen und beobachtet werden, auf das Auftauchen einer "Negerfalte" an den Augen gewartet und die "Fleischigkeit" der Lippen diskutiert wird.

Unreflektierter Glaube

Es wird auch penibel notiert, wie man die gerade 20-jährige Mutter verfolgt, durch wiederholte Investigation bei ihrer Vermieterin, am Arbeitsplatz und bei ihrem späteren Verlobten in Misskredit bringt und so schließlich zu einem Selbstmordversuch treibt – alles mit den besten Absichten natürlich: Das Kind kann erst guten Gewissens an eine Adoptivfamilie vermittelt werden, wenn die Identität des Vaters bekannt ist und man so endlich weiß, was sich in den Genen dieses Kindes verbergen mag.

Und auch für das Kind will man nur das Beste: Es soll "unter seinesgleichen" aufwachsen. Der Roman zeigt ganz gut, wie Menschen aus den allerbesten Absichten und unreflektiertem Glauben an vermeintliche Wissenschaft (ein Label, das die sogenannte Rassenlehre lange für sich beanspruchen konnte) anderen Menschen Leid und Unrecht antun. Wobei er unterschlägt, dass viele Menschen das auch mit schlechten Absichten tun.

Konstruierte Vatersuche

Die Aktenvermerke sind der spannendste Teil des Romans, auch wenn sie so ausufernd und narrativ sind, dass sie als "Aktenvermerke" bald schon unglaubwürdig werden und der Duktus bisweilen irritierend nahe an jenem der Ich-Erzählerin ist. Zunehmend konstruiert wirkt dagegen die Suche Franziskas nach dem Vater von Danny.

In diesen Passagen bleibt Kim, so zeitlos und brennend aktuell das Thema ihres Romans ist, teilweise auffällig konventionell: Naturmetaphorik aus dem Bereich Kälte, Schnee und Nebel (Einsamkeit!), die wiederkehrenden Motive Sehen und Blindheit oder Plattitüden wie jene vom Schreiben, das eben einsam sei. Auch der halb offene, etwas verkitschte Schluss, der auf einer ähnlichen Annahme wie jener der Sozialarbeiterin beruht, nämlich dass Danny nur im Wissen um seine Herkunft Frieden finden könne, wirkt konstruiert und der Geschichte aufgepfropft.

Ein unterhaltsamer, gut zu lesender Roman ist Geschichte eines Kindes allemal. Ein literarischer Wurf eher nicht. (Andrea Heinz, ALBUM, 14.8.2022)