Beim 25-Jahr-Jubiläum der Rückgabe Hongkongs an China wird Xis Rede dazu auf einer riesigen Werbetafel in Peking übertragen.

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Eine Idee davon, wie Xi Jinping, der mächtigste Mann der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft denkt, bekommt man, wenn man einen Blick in sein zweibändiges Werk China regieren wirft. Vielen gilt das Buch als unlesbar – wer es trotzdem versucht, findet dort Sätze wie: "Der chinesische Sozialismus ist reiner Sozialismus und kein anderes System. Die Grundprinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus dürfen nicht aufgegeben werden, sonst können wir nicht mehr vom Sozialismus sprechen." Oder: "Zur Verwirklichung des chinesischen Traums muss das Nationalgefühl gefördert werden. Dies ist ein Nationalgefühl mit patriotischem Kern und ein Zeitgeist mit einem Kern aus Reform und Innovation."

Lange dachte man im Westen, Xi Jinping sei bloß ein weiterer Apparatschik. Vielen wird erst jetzt, nachdem der Besuch von US-Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi in Taiwan die Beziehungen zwischen Washington und Peking gefährlich zugespitzt hat, klar, wie sehr er China seit 2012 verändert hat.

Wie alles begann ...

Um Chinas heutige globale Bedeutung zu verstehen, ist es nötig, knapp 20 Jahre zurückzuspulen: Es ist das Jahr 2001, das für China und die Weltwirtschaft so vieles verändert. Als Dank für die Unterstützung im "Krieg gegen den Terror" unterstützen die USA den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO). Die Mitgliedschaft schafft die Voraussetzung für Investitionen aus dem Ausland, die Peking dringend will. Im Gegenzug soll China faire Bedingungen für ausländische Unternehmen schaffen, Produktpiraterie und Technologiediebstahl unterbinden.

Bei der Hongkonger Buchmesse schmökert ein Besucher Im Buch "China regieren".
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Infolge des WTO-Beitritts beginnt der wohl gewaltigste Wirtschaftsaufschwung der Weltgeschichte: Milliardenschwere Investitionen werden getätigt, hunderttausende ausländische Unternehmen strömen ins Land. Acht, neun, zehn, ja sogar zwölf Prozent pro Jahr wächst das Bruttoinlandsprodukt. "Nicht in China zu sein, das können wir uns nicht leisten", heißt es bald bei vielen westlichen Unternehmen. China ist der Markt der Zukunft.

Doch immer wieder klagen westliche Unternehmen über Korruption und Produktpiraterie; und bei öffentlichen Ausschreibungen kommen stets chinesische Staatsunternehmen zum Zug. All dies ist nicht im Sinne der WTO-Regeln, und auch hinsichtlich der Achtung und Wahrung der Menschenrechte gibt es große Probleme.

Vorsitzender von allem

Aber die Welt wächst immerhin zusammen – und warum Peking nicht etwas mehr Zeit geben? So denkt man in großen Teilen der westlichen Welt. Als dann 2008 die Finanzkrise die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds bringt, ist es justament Peking, das den Karren mit einem gewaltigen Infrastrukturpaket wieder auf Spur bringt.

Als 2013 mit Xi Jinping ein neuer Staatspräsident die Macht ergreift, fällt vielen der neue Kurs zunächst nicht auf. Im Land selbst ist der vor allem wegen seiner Frau bekannt: Peng Liyuan ist eine bekannte Sängerin. Wie viele seiner Generation wurde Xi von den Grausamkeiten der Kulturrevolution geprägt. Auch sein Vater, ein Revolutionär der ersten Generation, fiel in Ungnade. Xi verbrachte deshalb seine Jugend in der Provinz Shaanxi, wo er in einer Höhle lebte und Landarbeit verrichtete.

1974 trat der 21-Jährige der Partei bei. Der Schluss liegt nahe, dass Xi es als seine einzige Überlebenschance sah, sich voll und ganz dieser Organisation zu widmen. Ab circa 2000 kletterte er in der Parteihierarchie nach oben, wurde Gouverneur der Provinz Fujian, später von Zhejiang und Parteichef in Chinas Finanzplatz Schanghai. 2008 wurde er schließlich zum Nachfolger von Präsident Hu Jintao designiert.

Antikorruptionskampagne

Xi festigt fortan mit einer populären Antikorruptionskampagne seine Macht. Doch mit den Jahren dämmert immer mehr, welcher neue Wind in Peking weht: Seine eigene Amtszeitbegrenzung schafft er ab; den Regierungsapparat baut er zu seinen Gunsten um; bald vereinigt Xi so viel Macht auf sich wie vor ihm nur Mao Zedong.

In China nehmen Überwachung und Zensur zu, ebenso die nationalistische Propaganda, die das Volk auf einen Showdown mit den USA einstimmt. Immer wieder spricht Xi von "großen Veränderungen, wie sie nur alle hundert Jahre vorkommen"; von einem "chinesischen Wiederaufstieg" ist die Rede, zu dem natürlich auch die "Wiedervereinigung" mit Taiwan gehört.

Nancy Pelosis Besuch in Taiwan Anfang August spitzte den Streit um die Insel dramatisch zu.
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2014 verkündet Xi dann das Konzept der Neuen Seidenstraße: Nun sollen chinesische Staatsunternehmen auch im Ausland aktiv werden. Über Infrastrukturprojekte will man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: neue Absatzmärkte schaffen und die – oft autokratischen – Regierungen der Zielländer enger an sich binden. Da die von den muslimischen Uiguren bewohnte Provinz Xinjiang eine Schlüsselrolle beim Zug nach Westen darstellt, beginnt dort um diese Zeit die brutale Unterdrückung der Minderheit.

Abhängigkeit des Westens

Gleichzeitig soll eine neue Doktrin China unabhängiger von der Weltwirtschaft machen. Die Theorie der Zwei Kreisläufe soll einerseits einen weitgehenden autarken Binnenmarkt unterstützen und gleichzeitig mit der globalen Wirtschaft enger verbunden sein. Letztlich aber geht es um mehr Kontrolle. Nicht die globale Konjunktur soll die Wirtschaft in China bestimmen, sondern die Partei soll einen Einfluss auf die globale Konjunktur haben.

Und tatsächlich gelang es der kommunistischen Partei in den vergangenen Jahren, einen großen Hebel anzusetzen: Autobauer wie Daimler, VW und BMW sind längst abhängig vom größten Konsumentenmarkt der Welt, wo sie rund ein Drittel ihrer Fahrzeuge absetzen. Mitgefangen sind tausende westliche mittelständische Zulieferer, die ihren Kunden nach China folgen mussten. Bei seltenen Erden – für die Herstellung etwa von Smartphones notwendig – hat China geradezu ein Monopol. Auch 60 Prozent des Aluminiums kommen heute aus China.

In Shenyang, im Nordosten des Landes, ist ein riesiges BMW-Werk.
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Am deutlichsten wird die Abhängigkeit des Westens aber bei der Energiewende: Rund 80 Prozent aller Solarzellen werden in China hergestellt. Rund 50 Prozent des für die Photovoltaik wichtigen Polysiliziums kommen aus vier großen Werken in der Unruheprovinz Xinjiang und werden potenziell unter Zwangsarbeit hergestellt.

Späte Erkenntnis

Hinzu kommt: Für die Herstellung der Solarzellen ist viel Energie notwendig – und die kommt aus Kohlekraftwerken. Die Hälfte aller im Bau befindlichen Kohlekraftwerke weltweit befindet sich in China. Dafür, dass Peking seine Macht über bestimmte Rohstoffe auch immer wieder politisch ausspielt, gibt es dutzende Beispiele.

Nicht alle diese Entwicklungen mögen die Folge kluger Industriepolitik Pekings sein, sondern vielmehr der oft völligen Abwesenheit westlicher Industriepolitik. Während man dieses Manko in den USA schon um 2018 erkannte und ein Entkopplungskurs mittlerweile parteiübergreifender Konsens ist, sickert die Erkenntnis in der EU erst langsam durch.

Nach bald zehn Jahren Xi Jinping muss auch dem größten "Panda-Hugger", wie man die westlichen China-Fans in Industrie und Politik nennt, klar geworden sein: China öffnet sich nicht – es verschließt sich vielmehr dank Xi Jinpings politischer Vorgaben und verfolgt mit Nachdruck geostrategische Ziele. Europa kann darauf wohl nur mit einer umfassenden, wertebasierten Handels- und Industriepolitik reagieren: einseitige Abhängigkeiten reduzieren, aber auch Menschenrechtsverbrechen klar benennen. (ANALYSE: Philipp Mattheis, 15.8.2022)