Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban den Präsidentenpalast in Kabul und posierten dort für Bilder. Seither gaben sie viele Versprechungen ab – die wenigsten hielten sie ein.

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Kabul/Wien – Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban den Kabuler Präsidentenpalast – und damit de facto die Regierung im lange umkämpften Hindukusch-Staat. Danach war Abwarten angesagt, nicht zuletzt im Wiener Außenamt. Minister Alexander Schallenberg sagte Ende August in einem Interview mit der "ZiB 2", man solle die Radikalislamisten "an ihren Taten messen". Später wiederholte er die Äußerung, fügte aber hinzu, die Taliban seien an den ersten Weggabelungen ihrer neuen Herrschaft wohl eher "in die falsche Richtung" abgebogen. Auch anderswo im Westen verfolgte man die ersten Monate der neuen afghanischen Regierung eher in Beobachterstellung. Mittlerweile, ein Jahr später, lässt sich über die wichtigsten Fragestellungen aber doch eine erste Bilanz ziehen.

  • Da sind zunächst die Frauenrechte, wegen der viele nach dem afghanischen Umsturz besonders besorgt waren – auch angesichts der Vorgeschichte. Denn als die Taliban zwischen 1996 und 2001 schon einmal das Land regierten, galt die Burka-Pflicht, die von den Islamisten damals auch mit täglicher Gewalt unterstrichen wurde. Diesmal überraschten die Gotteskrieger mit anderen Tönen: Eine Burka-Pflicht werde es nicht geben, Frauen könnten auch weiterhin in ihren Berufen tätig sein – so die Ankündigung. Seither hat sich allerdings einiges geändert, die Regeln wurden mehrfach verschärft. Ein Erlass aus dem Mai schreibt Frauen vor, sich in der Öffentlichkeit vollständig zu verschleiern, eine Burka sei "die beste Form" dazu. Zudem sollten Frauen idealerweise zu Hause bleiben, "wenn es keine wichtige Arbeit außerhalb gibt", um "Provokationen" von Männern zu vermeiden. Ein im Dezember veröffentlichter Erlass legt immerhin fest, dass Frauen "edle und freie Menschen" seien und etwa nicht als Besitz gelten oder als Tauschobjekte herangezogen werden könnten. Die NGO Amnesty International rechnet mit einer weiteren Verschlechterung der Lage.

  • Das liegt auch nahe, weil sich das bei der Machtübernahme der Taliban abgegebene Versprechen, wonach Frauen ihre Ausbildung ungehindert fortsetzen könnten, nicht bewahrheitet hat. Bei ihrer Machtübernahme geschlossene Schulen sollten eigentlich nach Umbauten – die für eine nach Sicht der Taliban religiösen Gesetzen genügende Ausbildung nötig waren – im März wieder öffnen. Dazu kam es allerdings nicht, überraschend teilten die Taliban mit, dass es wegen eines Mangels an Lehrpersonal und Uneinigkeit über die genaue Ausführung von konservativ geschnittenen Schuluniformen nicht zur Wiedereröffnung kommen werde. Beides wurde angesichts des Vorbereitungszeitraums von sieben Monaten von Fachleuten nicht als glaubwürdige Begründung erachtet. Die Universitäten sind vorerst für Studentinnen und Studenten geöffnet, allerdings haben die Taliban die Geschlechtertrennung wiedereingeführt. Weil sie zudem "Aufseher" an viele der Hochschulen entsandt haben und sich qualifiziertes Personal oft ins Ausland abgesetzt hat, bestehen aber für Männer wie Frauen Probleme bei der Fortsetzung ihres Bildungsweges.

  • Vor allem zu Beginn der Taliban-Herrschaft wurde gegen all das zumindest in mehreren Städten noch heftig protestiert – während die neuen, alten Herrscher die Demonstrierenden vorerst gewähren ließen. Seither hat sich das Blatt gewendet. Bereits nach einigen Wochen begannen die Taliban, Kundgebungen aufzulösen, später wurden vor allem aus den kleineren Städten des Landes immer mehr Fälle gemeldet, in denen bekannte Gegnerinnen und Gegner der Radikalislamisten unter ungeklärten Umständen verschwunden waren oder ganz offen wegen "moralischer Verwerflichkeit" verhaftet wurden. Mittlerweile gibt es solche Berichte regelmäßig auch aus Kabul. Stattfinden dürfen weiterhin manch andere Proteste. Nach dem Drohnenschlag gegen Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawahiri Anfang August 2022 demonstrierten mehrere Hundert Männer gegen die USA, im April gab es Demonstrationen vor der iranischen Botschaft, als Berichte über die Misshandlung von Afghanen im Nachbarland bekannt wurden.

  • Sorge hatte es bei der Taliban-Machtübernahme zudem um die Rechte von Minderheiten gegeben. Um diese – und ihre mögliche Abschiebung nach Afghanistan – war es unter anderem auch in dem Interview gegangen, in dem Außenminister Schallenberg die Taten der Taliban als Richtschnur für die weitere Politik sehen wollte. Auch hier verschlechtert sich die Situation trotz gegenteiliger Zusicherungen der Taliban – auch wenn sie noch nicht mit den Verfolgungen religiöser Minderheiten während der ersten Regierungszeit der radikalen sunnitischen Organisation vergleichbar ist. Allerdings, so schreibt Amnesty in einer jüngsten Meldung, nehmen auch die tätlichen Angriffe zu. Erst in den vergangenen Tagen soll es dutzende Tote bei Angriffen auf Vertreter der großteils schiitischen Hazara gegeben haben. Die Vorwürfe gegen die Taliban drehen sich vorerst aber in erster Linie um mangelnden Schutz vor Angriffen, die zum Beispiel von der sunnitischen Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) ausgehen, weniger geht es um Angriffe der Taliban selbst.

  • Formell noch immer in Kraft ist das afghanische Pressegesetz, das die Vorgängerregierung der Taliban 2015 erlassen hatte und das Pressefreiheit garantiert. Tatsächlich allerdings hat sich auch die Situation der Medien seit dem vergangenen Jahr dramatisch verschlechtert. Ganz besonders betroffen sind auch hier Frauen. 80 Prozent jener Journalistinnen, die im vergangenen August noch Arbeit bei Medien hatten, haben diese mittlerweile verloren. Auch die afghanischen Nachrichtensprecherinnen, die nach der Machtübernahme der Taliban durch ihre Auftritte mit nur legerer Verschleierung internationalen Respekt geerntet hatten, müssen ihre Gesichter mittlerweile bedecken. Laut einem Bericht der Organisation Reporter ohne Grenzen hat das Land im vergangenen Jahr 60 Prozent seiner Journalistinnen und Journalisten verloren. Die Organisation berichtet von einer wachsenden Bedrohungslage. Zudem leide der Medienmarkt unter der immer schwächer werdenden Wirtschaft.

  • Die wirtschaftlichen Bedingungen und der Hunger im Land sind auch insgesamt das vielleicht größte aktuelle Problem der Taliban-Regierung. Seit Monaten warnt die Uno vor einer drohenden massiven Hungersnot, deren allerschlimmste Folgen bisher nur mehr schlecht als recht abgefedert werden konnten. Der Nahrungsmangel hat gravierende Folgen. 20 Millionen Menschen litten laut dem World Food Programme im Mai in Afghanistan an Hunger, darunter zehn Millionen Kinder. Bereits im Winter gingen Bilder aus Kabul um die Welt, auf denen Menschen zu sehen waren, die Hab und Gut der Familie auf improvisierten Märkten verkauften, um mit den Einnahmen ihren Hunger und jenen ihrer Verwandten stillen zu können. Die anhaltende Trockenheit und ein Erdbeben mit rund tausend Toten verschlimmerten die Situation jüngst. Heiß diskutiert wird im Zusammenhang mit der afghanischen Wirtschaft noch immer, was mit den Reserven des Landes passieren soll. Bei Gesprächen über die Freigabe von rund neun Milliarden Dollar (8,8 Milliarden Euro) durch die USA soll es jüngst leichte Fortschritte gegeben haben.

  • Das Vertrauen in die Taliban-Regierung ist allerdings durch die jüngsten Entwicklungen in Sachen Terrorismus nicht gerade gewachsen. Bei den Verhandlungen mit der damaligen US-Regierung Donald Trumps im Jahr 2020 hatten die einstigen Gotteskrieger noch zugesichert, dass ihr Land nicht wieder – so wie vor 2001 – zu einer Heimstätte des internationalen Terrorismus werden würde, wenn sie die Macht in Kabul übernehmen würden. Zweifel an Durchsetzungskraft und -willen wurden aber spätestens nach dem Drohnenschlag der USA gegen Al-Kaida-Chef al-Zawahiri laut. Dieser wohnte bis zu seinem Ableben offenbar von den Taliban unbehelligt in Kabul. Daran, dass der gesamten Regierung seine Anwesenheit unbekannt gewesen sei, so wie die Taliban dies beteuern, gibt es große Zweifel. Das erhoffte Ende von Terroranschlägen brachte die Taliban-Machtübernahme auch nicht. Sie haben nun ihrerseits mit radikalen Splittergruppen, aber auch mit dem IS zu kämpfen.

  • Bleibt die Frage der internationalen Anerkennung. Bisher hat noch kein Staat die Taliban offiziell als Regierung Afghanistans anerkannt, allerdings wächst der Austausch mit den Radikalislamisten, deren tatsächliche Herrschaft über das Land natürlich nur schwer verleugnet werden kann. Russland und China sehen Chancen darauf, die Beziehungen zu Kabul zu vertiefen und an Einfluss zu gewinnen. Eine formelle Anerkennung sei nicht ausgeschlossen, sagte der russische Gesandte Samir Kabulow im Juni, allerdings müssten die paschtunischen Taliban dafür auch andere Ethnien gleichberechtigt in die Regierungsführung aufnehmen. China setzt vor allem auf wirtschaftliche Unterstützung und unternimmt damit auch den Versuch, durch Abhängigkeiten Einfluss zu schaffen. Die Türkei betreibt weiterhin eine Botschaft im Land. Versuche, sich als eine Art diplomatisches Bindeglied zu positionieren, sind allerdings nicht durchgehend gelungen.

  • Immerhin auf dem internationalen Drogenmarkt hat die Taliban-Machtübernahme noch wenige Folgen hinterlassen. Befürchtet worden war, dass die Organisation, die sich im Kampf gegen den Westen auch mit Drogengeldern finanziert haben soll, das lukrative Geschäft mit den Suchtmitteln als Finanzzweig für das Land nutzen könnte. Bisher soll es aber wenige Änderungen auf dem Drogenmarkt geben. Eine Reportage der Plattform "Vice" aus dem April zeigte, dass der Anbau von Schlafmohn trotz eines zuvor ausgesprochenen Verbots weiter in vollem Gange war – teils auch unter Beteiligung von Taliban. Eine Ausweitung sei aber nicht zu beobachten. In Kabul haben die Beamten des Taliban-Ministeriums für die Ausweitung der Tugend und die Verhinderung von Ausschweifungen nach einem Bericht des öffentlich-rechtlichen australischen Senders ABC tausende Süchtige in medizinisch fragwürdige Rehabilitationscamps gezwungen. (Manuel Escher, 15.8.2022)