Studierte bei Krystian Lupa in Krakau: Regisseurin Ewelina Marciniak.

Foto: Natalia Kabanov

Die Tochter möchte eine Karriere als Pianistin einschlagen, der Vater hat die seine als Ethikprofessor bereits gemacht. Gerade bringt er sein neuestes Buch über #MeToo auf den Markt, da erfährt er vom Missbrauch seiner Tochter durch den eigenen Bruder. Die Reaktion: Die Tochter solle gefälligst schweigen – sonst gefährde sie die Position des Vaters.

Iphigenia nennt die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak ihre erste Regiearbeit in Österreich, doch wer sich darunter die Geschichte der Tochter von Agamemnon und Klytämnestra erwartet, der wird bei der Premiere am kommenden Donnerstag auf der Perner-Insel in Hallein enttäuscht. Agamemnon ist in der Interpretation von Marciniak und der Autorin Joanna Bednarczyk ein geachteter Universitätsprofessor, Klytämnestra seine "trophy wife". In der griechischen Mythologie soll Iphigenie geopfert werden, um für günstige Winde für die Griechen zu sorgen. Bei Marciniak soll sie die Pappn halten, um die Karriere des Vaters nicht zu zerstören.

Hauptsache Gegenwartsbezug

"Mich interessiert der Gegenwartsbezug in den archetypischen Stoffen", sagt die Regisseurin eine Woche vor der Premiere. Mit strahlendem Gesicht sitzt die Theatermacherin auf der Presseterrasse der Salzburger Festspiele und erklärt das Regiekonzept von Iphigenia, einer Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater. Mit den Überschreibungen alter Stoffe hat Marciniak sich in den vergangenen Jahren den Ruf einer Erneuerin des Theaters erarbeitet. Eine Art weiblicher Simon Stone, wenn man so möchte. So wirklich stehen lassen will die Regisseurin den Vergleich aber nicht. Während der australische Starregisseur aus alten Stoffen neue, Netflix-fähige Storys baut, arbeitet die polnische Theatermacherin näher an den Originaltexten.

Im Fall von Iphigenia sind dies die Dramen von Euripides und von Goethe. Zum einen also die Geschichte von Iphigenies Sühneopfer, zum anderen ihr Nachleben als Priesterin auf Tauris. "Ich werde eine junge und eine alte Iphigenie auftreten lassen, eine, der es verboten ist, ihren Schmerz zu artikulieren, und eine, die versucht, die alten Wunden zu heilen", sagt Marciniak. Gefunden hat sie ihre beiden Iphigenies in den Schauspielerinnen Oda und Rosa Thormeyer, selbst Mutter und Tochter. Beide sind fest am Thalia-Theater engagiert, neben den Theatern in Freiburg und Mannheim die Heimstätte Marciniaks im deutschsprachigen Raum.

Körperarbeit ist Ewelina Marciniak genauso wichtig wie die Arbeit am Text. Hier ein Probenbild von "Iphigenia".
Foto: Salzburger Festspiele

Für die Hamburger Dramatisierung des Romans Der Boxer des polnischen Schriftstellers Szczepan Twardoch erhielt die Regisseurin 2019 den Faust-Preis, mit der Inszenierung der Mannheimer Jungfrau von Orleans wurde sie im vergangenen Jahr sogar zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Die Inszenierung ist ein gutes Beispiel für Marciniaks Arbeitsweise: Handlung und Kommentar vermischen sich, der Mythos der Jungfrau wird dekonstruiert, die Rezeption des Schiller-Dramas mitgedacht.

"Alles ist politisch in der Kunst", sagt Marciniak und hält zu mittäglicher Stunde ein Plädoyer für Toleranz und gegen Ausgrenzung: "Die Bühne ist die Plattform, auf der ich für meine Anliegen kämpfen kann." In Polen hat das der 38-Jährigen schon Ärger eingebracht. Als sie 2015 in Krakau Jelineks Der Tod und das Mädchen inszenierte und zwei Prostituierte auf die Bühne holen wollte, drohte der Kulturminister mit Zensur. Erfolg war ihm keiner beschieden, was auch an Marciniaks Kompromisslosigkeit liegen könnte.

Ob kanonische Texte oder Gegenwartsdramatik: Es sind mit Vorliebe feministische Fragestellungen und weibliche Perspektiven, die Marciniak aus ihren Stoffen herausschält. Die Arbeit mit dem Körper hat dabei eine ähnlich wichtige Rolle wie jene mit dem Text. "Ich glaube, ich bin im polnischen Theater eine der wenigen, die so stark mit dem Körper arbeitet." Es war nur eine Frage der Zeit, bis man auf die Regisseurin auch im Ausland aufmerksam wurde. Nachdem der Intendant des Freiburger Theaters 2018 in Warschau Marciniaks Adaption der Jakobsbücher von Olga Tokarczuk gesehen hatte, holte er sie an sein Haus. Damit begann die steile Karriere der Regisseurin im deutschsprachigen Raum. Bei den Festspielen könnte sie einen weiteren Höhepunkt erreichen.
(Stephan Hilpold, 14.8.2022)