Eine wichtige Pandemiedimension sei politisch zu wenig beachtet worden, sagt Ulrich Elling: "Unser gesellschaftliches Miteinander. Da haben wir so gut wie nichts getan."

Foto: IMBA

Die Ferien neigen sich dem Ende zu, und sicher ist nur: Das Coronavirus wird wieder miteingeschult. Wie soll das Pandemiemanagement aussehen, wenn es "draußen" so gut wie keine Maßnahmen mehr gibt und (fast) alle so tun, als läge die Pandemie hinter uns? Wir müssten endlich dem Virus voraus sein statt immer hinterher, sagt Molekularbiologe Ulrich Elling, dessen Laborgruppe am IMBA gemeinsam mit der Ages die repräsentative Sequenzierung von Sars-CoV-2 für Österreich durchführt.

STANDARD: Es gibt eine Debatte, ob Corona-positive Lehrkräfte ohne Symptome arbeiten gehen sollen – wie andere Berufsgruppen auch – oder nicht. Wien, das Burgenland und wohl auch Salzburg wollen keine infizierten Lehrenden unterrichten lassen. Bildungsminister Martin Polaschek verteidigt die bundeseinheitliche Regelung auch für den Schulbereich. Wie stehen Sie als Molekularbiologe dazu?

Elling: Die Schuldebatte wird prinzipiell sehr überhitzt und emotional geführt. Im Prinzip ist Schule kein Ort, an dem besonders viele vulnerable Personen zusammenkommen. Wir haben gesehen, dass Kinder meist sehr milde Covid-Verläufe haben, und auch MIS-C (ein Krankheitsbild, das bei Kindern und Jugendlichen nach einer Corona-Infektion auftreten kann, Anm.) wird glücklicherweise seltener. Es gibt also keinen Grund, die Schule anders zu behandeln als andere Orte. Es gibt keinen sachlichen Grund, symptomlose Lehrkräfte anders zu behandeln als Symptomlose im Großraumbüro.

STANDARD: In der Tat ist die Schule in der ganzen Pandemie schon immer ein Hauptschauplatz für Corona-Maßnahmendebatten. Welche Rolle spielen Sie in der Pandemie tatsächlich?

Elling: Die Schulen heizen das Infektionsgeschehen für die Gesamtgesellschaft an. Jetzt haben wir das Problem, dass die Kinder nicht mehr regelmäßig und systematisch getestet werden – im Gegensatz zu 2021. Damals hatten wir einen extrem starken Reiserückkehrerschub bei den Infektionszahlen, der dann im September durch das Testregime plateauisiert wurde. Das wird heuer anders sein. Dieses Jahr wird es in den Schulen hinaufgehen.

STANDARD: Warum war das Vorjahr so grundlegend anders?

Elling: Letztes Jahr hatten wir sehr viele Covid-positive Reiserückkehrer, weil es in anderen Ländern sehr viel höhere Infektionszahlen gab. England hat ab Juli die Deltawelle voll durchlaufen lassen, dann folgte Portugal und so weiter. Und das haben die österreichischen Urlauber dann mitgebracht. In Österreich haben wir das relativ systematisch gebremst, bevor Anfang Oktober der Herbsteffekt schlagend wurde. Dieses Jahr wird der Urlaubseffekt schwächer ausfallen, aber das Bremsen auch. Das heißt, wir starten von einem hohen Niveau in den Herbst.

STANDARD: Sollte also zumindest in den Schulen wieder mehr getestet werden?

Elling: Das Testen in ausgewählten Schulen wäre sinnvoll, weil sich das allgemeine Testverhalten in der Bevölkerung und der Umgang mit dem Virus stark verändert haben. Es lassen sich viel weniger Menschen testen, darum wissen wir viel weniger über das tatsächliche Geschehen.

STANDARD: Komplexitätsforscher Peter Klimek hat unlängst gesagt, dass mit dem starken Rückgang bei den Testungen die Zahlen aus dem epidemiologischen Meldesystem (EMS) "kaum noch aussagekräftig" sind. Betrachte man die Spitalszahlen und die Abwasseranalyse-Daten, dann dürfte die Zahl der Corona-Infizierten "um den Faktor 2 bis 3 höher sein". Das heißt, es gibt aktuell eine hohe Dunkelziffer bei den Corona-Erkrankungen.

Elling: Ja, darum würden uns Corona-Tests in ausgewählten Schulen eine Auswertung ihrer Inzidenz geben, die wir im Moment de facto nur noch über das Abwasser erhalten. Weil nicht mehr getestet wird, sehen wir erst mit Verspätung in den Krankenhäusern, wann die Welle kommt, und die Prognosen werden sehr unsicher. Im Moment fahren wir mit Blick in den Rückspiegel, so lässt sich die Pandemie nicht sinnvoll steuern, und der Bremsweg wäre gegebenenfalls sehr kurz.

STANDARD: Wie beurteilen Sie das Aus für die Quarantäne? Man muss jetzt bei einem positiven Corona-Test nicht mehr automatisch zu Hause bleiben. Stattdessen gelten Verkehrsbeschränkungen. Man darf das Haus – bis auf wenige Ausnahmen – verlassen, muss aber eine FFP2-Maske tragen.

Elling: Ich war immer gegen das Ende der Quarantäne. Der Nutzen ist viel geringer als erhofft. Selbstständige arbeiten sowieso. Wer Homeoffice macht und keine oder kaum Symptome hatte, hat schon bisher im Zweifel auch gearbeitet. Wer wirklich krank ist, bleibt ohnehin daheim, und wer keine Lust hat, geht auch nicht arbeiten. Es werden also nicht so viele arbeiten gehen, die Corona, aber keine Symptome haben, wie von der Wirtschaft erhofft. Aber dieses Quarantäne-Aus hat eine extreme Symbolwirkung, denn es gibt jetzt überhaupt keinen Grund mehr für andere Maßnahmen.

STANDARD: Welche Maßnahmen sollte es für Schulkinder geben?

Elling: Die Schülerinnen und Schüler haben im Laufe der Pandemie wirklich sehr viel über sich ergehen lassen. Denen ist eigentlich nicht zumutbar, dass sie wieder etwas über sich ergehen lassen – für andere.

STANDARD: Was heißt das für die Lehrerinnen und Lehrer?

Elling: Keine Sonderregelungen. Wenn man andere Leute in die Arbeit lässt, dann können wir das mit den Lehrerinnen und Lehrern auch machen. Das allein hat keinen wesentlichen Einfluss auf die Pandemie. Wie gesagt, ich wäre eigentlich für die Beibehaltung der Quarantäne für alle Personen, nicht nur im Bildungssektor.

STANDARD: Wo wären die Räder, an denen wir drehen müssten, um endlich aus diesem Corona-Wellenzyklus herauszukommen?

Elling: Langfristig wäre es schlau, wenn wir gewisse Maßnahmen etablieren würden, die dämpfend wirken, und zwar dauerhaft. Wir können und wollen die Wellen nicht mehr brechen, sie zu dämpfen muss aber das Ziel bleiben.

STANDARD: Was würde dämpfen?

Elling: Saubere Innenluft, also Luftreinigungsgeräte, sowie Ausbau von Hybridarbeitsmöglichkeiten und Hybridunterricht. Saubere Luft ist gut für die Gesundheit, weil sie insgesamt weniger Infektionskrankheiten bringt, und damit ist sie auch gesund für die Wirtschaft, der die Arbeitskräfte nicht ausfallen. Das wäre eigentlich eine politische Aufgabe für das Gesundheitsministerium. Und, an sich eine Selbstverständlichkeit, die auch für Corona gilt: Wer krank ist, soll nicht rausgehen und andere anstecken.

STANDARD: Welche Rolle wird oder muss die Maske in Zukunft spielen?

Elling: Sie ist ein simples, aber wirksames Instrument, das bei hohen Infektionszahlen zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit werden muss. Grundsätzlich aber muss man sagen, dass die Pandemie eine ganz wesentliche Dimension hat, die politisch viel zu wenig beachtet wird: unser gesellschaftliches Miteinander. Da haben wir so gut wie nichts getan. Nichts, das nachhaltig pandemiedämpfend wirkt. Wir haben nur Immunität in der Bevölkerung aufgebaut. Das reicht aber nicht, um die Pandemie endgültig unter Kontrolle zu bringen.

STANDARD: Beim Impfen geht auch nichts mehr weiter. Eine echte, gute Impfkampagne ist nicht in Sicht... Im Gegenteil, es gibt Begehrlichkeiten von Gemeinden oder Städten wie zum Beispiel Innsbruck, die das Geld, das sie vom Bund für eine Impfkampagne für den Herbst bekommen haben – insgesamt 75 Millionen Euro –, lieber in Anti-Teuerungsaktionen stecken möchten. Das war ja nicht wirklich Sinn der Sache...

Elling: Nun, so wie die Covid-Maßnahmen im vergangenen Herbst nicht darauf abgestellt waren, die Deltawelle zu bremsen, sondern auf die Oberösterreich-Wahl, sind sie jetzt – inklusive Abschaffung der Isolierung Covid-Positiver – nicht darauf abgestimmt, uns auf die kommende Herbstwelle vorzubereiten, sondern auf die anstehende Tirol-Wahl, die Wahl in Niederösterreich und mögliche weitere Wahlen.

STANDARD: Was würden Sie sich als Forscher, der seit Beginn der Pandemie mit dem Coronavirus befasst ist, etwa als sie und ihr Team die ersten Sequenzierungen des Coronavirus gemacht haben, jetzt wünschen oder was fordern Sie?

Elling: Eine Testschiene in den Schulen zusammen mit einer regelmäßigen Antikörperstudie würde uns erlauben, zumindest den Messfühler in der Pandemie drin zu haben und zu sehen, wie groß das Potenzial der Welle im Herbst ist. Ansonsten werden wir die Pandemie in diesem Winter "ungesteuert" erleben.

STANDARD: Apropos ungesteuert. Wir beschäftigen uns jetzt schon seit bald zweieinhalb Jahren mit den immer gleichen Corona-Themen und Problemen, die überhaupt nicht mehr sein müssten. Sehen Sie politische bzw. gesellschaftliche Muster im Umgang mit der Pandemie?

Elling: Den ersten Sommer 2020 haben wir in Naivität erlebt. Der März-Lockdown lag hinter uns, viele haben geglaubt, die Pandemie ist vorbei. Der zweite Sommer war der des falschen Optimismus. Es herrschte die Meinung, wir – oder viele – sind geimpft, jetzt ist es vorbei, und es wurde auf die Ungeimpften geschimpft. Im dritten Sommer mit dem Coronavirus wissen wir alle, dass die Pandemie nicht vorbei ist, aber wir leben in kollektiver Verdrängung, was zwar psychologisch durchaus verständlich ist, aber nicht alle Probleme lassen sich durch Wegschauen lösen, schon gar nicht eine Pandemie. Vulnerable sagen zu Recht: Es geht nicht, uns so fallenzulassen, nur weil die immunologisch Stärkeren sichergehen wollen, dass die Pandemie nicht mehr unter dem Teppich hervorkommt. Dafür müssen wir aber endlich die notwendigen Maßnahmen setzen und als Gesellschaft auch mittragen. (Lisa Nimmervoll, 17.8.2022)