Kenan Güngör, Soziologe, Integrationsexperte und Politikberater.

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Kenan Güngör ist einer von 160.000: So viele Verfahren wegen Beleidigung des Präsidenten gibt es in der Türkei nämlich, seit Recep Tayyip Erdoğan an der Macht ist. Der in Ostanatolien in einer kurdischen Familie geborene und seit 2007 in Wien lebende Soziologe und Politikberater erklärt, was es mit den zwei – geheimen – türkischen Haftbefehlen gegen ihn auf sich hat, welches System dahintersteckt, wie türkische Spione, aber auch freiwillige Helfer in Europa mithilfe einer eigenen Spitzel-App als Erdoğans willfähriger langer Arm fungieren und warum österreichische Politiker endlich aufhören sollten, den autoritären Machthaber in Ankara regelrecht zu hofieren.

STANDARD: Gegen Sie bestehen in der Türkei zwei Haftbefehle. Einer wegen Präsidentenbeleidigung, der andere wegen Terrorismusunterstützung. Was ist da los? Wie kam es dazu?

Güngör: Für mich war das naheliegend, dass so etwas passiert. Vielmehr hätte es mich überrascht, wenn nichts vorliegen würde. Überraschend war nur, dass meine Haftbefehle unter Geheimhaltung laufen. Normalerweise hat man ein Ermittlungsverfahren. Das ist eher eine Besonderheit und sie machen es nicht bei jedem.

STANDARD: Wieso verfolgt die Türkei überhaupt einen Wissenschafter, der seit Langem im Ausland lebt und jetzt in Österreich arbeitet und forscht? Warum wird gegen so jemanden, in dem Fall Sie, ein geheimer doppelter Haftbefehl verhängt?

Güngör: Die Türkei schert sich überhaupt nicht, ob türkeistämmige Menschen im Inland oder Ausland leben oder welche Staatsbürgerschaft sie besitzen. In der Verfolgung sind sie wahrlich internationalistisch. Die reale Drohung lautet: "Glaubt ja nicht, dass ihr im Ausland in Sicherheit seid, uns kritisieren und verunglimpfen und dann in der Türkei Urlaub machen könnt". Mit dieser Strategie wird die amtliche wie auch freiwillige Spitzelarbeit in Europa noch einmal verstärkt und offensiv beworben. So kam es ja zu den großen Verhaftungswellen, weil freiwillige Helfer im Ausland über eine eigens dafür entwickelte Spitzel-App aktiv an der Denunziation von Kritikern und Oppositionellen mitgewirkt haben.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass Sie hier in Österreich von türkischen Spitzeln beobachtet oder bewusst verfolgt werden, sei es in der Öffentlichkeit oder auch im virtuellen Raum in den sozialen Medien?

Güngör: Davon bin ich immer ausgegangen, aber bei mir machen sie es sehr dezent, weil ich ja nicht lautstarke Oppositionsarbeit mache, sondern als Wissenschafter die Auswirkungen der türkischen Politik auf die türkische Community in Europa beleuchte. Da war Berîvan Aslan (Anm. ehemalige grüne Nationalratsabgeordnete und nun im Wiener Landtag und Gemeinderat) zum Beispiel ganz anderen Angriffen ausgesetzt, weil sie auch politisch sehr offensiv gekämpft hat. Mir wurde von Türkei-kritischen Kreisen manchmal sogar vorgehalten, dass ich mich mit in meiner wissenschaftlichen Analyse zu differenziert und moderat äußere. Doch in einem Land, wo extremes Unrecht passiert, ist das schon zu viel. Sie verfolgen genau, was ich tue.

STANDARD: Was ist Ihnen da zum Beispiel widerfahren?

Güngör: Ganz offensichtlich war das bei einem Vortrag in Salzburg vor sechs Jahren mit Vizebürgermeisterin Anja Hagenauer (SPÖ) zum Thema Türkei, der Putsch und die Folgen. Da sind zwei Geheimdienstler oder Beamte des türkischen Konsulats mit zwei Ordnern wegen mir vorstellig geworden, um ihr zu beweisen, dass ich ein Staatsfeind sei und daher eine Veranstaltung mit mir nicht stattfinden dürfe. Es wurde von ihr rundum abgelehnt und klargestellt, dass hierzulande das Canceln kritischer Stimmen nicht akzeptiert wird. Wenn die türkische Botschaft damals schon zwei Ordner mit Unterlagen über mich hatte, dann dürften es bis heute einige Ordner mehr sein. Ich hätte gerne mal hineingeschaut, was sie alles als staatsfeindlich eingestuft haben bzw. wo und wie die Bespitzelung stattfand. Dass die Botschaft hier mit ihren Spionen und freiwilligen Zuarbeitern sehr aktiv ist, ist ein offenes Geheimnis. Es wäre schon längst an der Zeit, dass der türkische Botschafter bezüglich dieser grundrechtseinschränkenden Umtriebe beim Außenminister vorgeladen werden sollte.

STANDARD: Wie könnten Sie denn – aus türkischer Regierungssicht – Präsident Tayyip Erdoğan "beleidigt" haben?

Güngör: Wenn ich das wüsste. Da die Haftbefehle unter Verschluss sind, lassen sie die Begründungen dafür völlig im Dunkeln. Auch mein Anwalt in der Türkei konnte das nicht einsehen. Es genügt oft schon, wenn man die antidemokratischen Entwicklungen in der Türkei, den Krieg, den Erdoğan mit Unterstützung von Jihadisten und Islamisten gegen die Kurden in Syrien führt, analytisch beschreibt – das alles wird als staatfeindlicher Akt, Terrorismus oder als Beleidigung des Präsidenten kriminalisiert. Menschen werden schon wegen viel weniger angeklagt.

Das ist ein System. Es gibt eine Armada von Staatsanwälten, Polizisten und Freiwilligen, die den ganzen Tag die sozialen Medien durchleuchten. Seit Erdoğan Präsident ist, gibt es sage und schreibe 160.000 Verfahren zum Thema Beleidigung des Präsidenten. Das ist natürlich eine ganz bewusste Strategie der Einschüchterung und Zensur, denn so traut sich kaum einer mehr, irgendetwas zu sagen, weil sofort eine Anklage folgen kann.

STANDARD: Spielt bei den Haftbefehlen – vor allem jenem, der von "Terrorunterstützung" spricht – auch eine Rolle, dass Sie kurdischstämmig sind?

Güngör: Dass ich Kurde bin, reicht alleine nicht aus. Es geht da eher darum, dass ich die Menschenrechte, die repressive Politik gegen die Kurden in und außerhalb der Türkei immer wieder kritisch analysiere. Es genügt ja schon, wenn man sich heute mit der oppositionellen kurdischen Partei HDP solidarisiert oder auf Veranstaltungen geht. Für die türkische Regierung sind auch die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die den Islamischen Staat besiegt haben, eine Terrororganisation. Jede Solidaritätserklärung mit ihnen oder wohlwollende Kommentierung wird als Terrorunterstützung verstanden. Insofern gerät man in der Türkei mit einer bestimmten oppositionellen Haltung, insbesondere wenn man sich zur Kurdenfrage äußert, sofort unter Terrorverdacht oder gilt als Unterstützer.

STANDARD: Sie waren seit sechs Jahren nicht mehr in der Türkei, wo sie geboren wurden. Hatten Sie vor, wieder einmal hinzufahren oder wie kam die Sache mit den Haftbefehlen überhaupt auf?

Güngör: Mir war nach dem Putschversuch Mitte Juli 2016 relativ klar, dass mit der offiziellen Darstellung des Putsches vieles nicht stimmen konnte. Nach intensiver Beschäftigung damit kristallisiert sich immer stärker heraus, dass dieser von der Gülen-Bewegung geführte Putschversuch, ein von Erdoğans AKP schon gewusster und kontrollierter Putsch ist. Man hat die Gülen-Bewegung, die sicher alles andere als unschuldig ist, ins Messer laufen lassen. Somit hatte Erdoğan die notwendige Legitimation für den Ausnahmezustand sowie sich der Gülen-Bewegung wie auch aller anderen oppositionellen Kräfte innerhalb und außerhalb der Bürokratie und des Militärs zu entledigen. Es war die größte "Säuberungsaktion" in der Geschichte in der Türkei, von der Erdoğan alleine profitierte. Dadurch wurden die willkürlichen Bespitzelungen, Verhaftungen um ein Vielfaches intensiver. Ab da war mir klar, dass es für mich, wie auch viele andere ein türkisches Roulette ist, in die Türkei einzureisen.

Da es immer auch eine Ungewissheit gibt, ob und was gegen einen vorliegt, wollte ich das über einen Anwalt erfahren. Denn irgendwann muss man sich das Verfahren anschauen, weil sonst bleibt es auf Ewigkeiten und man kann nie wieder einreisen. Ich habe mir im Konsulat eine Vollmacht für meinen Anwalt ausstellen lassen und dort wurde mir mit großen Augen gesagt: "Herr Güngör, Sie werden in der Türkei gesucht!" Danach hat mein Anwalt recherchieren müssen, welche Staatsanwaltschaft zuständig ist und was mir zur Last gelegt wird – seitdem wissen, wir, dass zwei Haftbefehle gegen mich vorliegen.

STANDARD: Was würde Ihnen passieren, wenn Sie jetzt in die Türkei einreisen würden? Was droht Ihnen theoretisch?

Güngör: Es kann alles passieren: Es kann zum Beispiel sein, dass ein Haftbefehl für nichtig erklärt wird, weil sie keine Beweisgrundlage haben. Die Strategie gerade bei Leuten, deren Haftbefehl als geheim eingestuft wird, ist ja auch, sie im Unklaren zu lassen und erst im Verhör zu versuchen, das benötigte belastende Material zu finden. Damit hat man de facto keine Möglichkeit, seine Verteidigung vorzubereiten, weil man auf die geheimen Vorwürfe ja gar nicht eingehen kann. Erst nach dem Verhör kann man in die Anklageschrift hineinlesen, die zuvor um alles ergänzt wurde, was man im Verhör gesagt hat. Allein für den Tatbestand des Terrorismus kann man mit fünf bis 15 Jahren Strafe rechnen, die möglich und nicht unrealistisch sind.

STANDARD: Machen Sie sich auch Sorgen um Familienangehörige, die noch in der Türkei leben? Sind die durch diese Haftbefehle gegen Sie irgendwie gefährdet oder bedroht?

Güngör: Nein, Gott sei Dank lebt meine Kernfamilie in Deutschland. Aber ich habe natürlich viele Verwandte, Bekannte und Freunde, die in der Türkei leben. Ich habe einerseits eine große Bindung zu diesem Land. Diese ist aber sehr ambivalent, eine Art Hassliebe. Es ist dein Heimatland, Teil deines Schicksals, in das du hineingeboren bist, das Land, das dich, wegen deiner kurdischen Herkunft, deines alevitischen Glaubens und liberal-freiheitlichen Grundhaltung in ethnischer, religiöser und politischer Hinsicht verfolgt und unterdrückt. Man wurde in dem, was man ist, eigentlich immer nur als Gefahr gesehen, wegen der man verschweigen musste, wer und was man ist. Ich habe vor Kurzem einen Onkel verloren, den ich nicht einmal das letzte Mal sehen könnte. Ich kenne viele, deren Eltern gestorben sind, und deren letzter Wunsch war, noch einmal ihren Sohn oder ihre Tochter zu sehen, was nicht möglich war. Das ist natürlich eine weitere Form der Bestrafung.

STANDARD: Welche Auswirkungen haben diese Haftbefehle auf Ihr Leben hier in Wien? Sind Sie – im echten Leben, aber auch in den sozialen Medien – "sicherheitshalber" vorsichtiger? Fühlen Sie sich bedroht?

Güngör: Ich fühle mich nicht unmittelbar bedroht. Ich glaube, sie sind in meinem Fall vorsichtiger, weil ich doch eine Persönlichkeit im öffentlichen Leben bin. Es gibt auch Vertreter der Regierungspartei oder religiös Konservative, die sagen: "Ja, Herr Güngör kritisiert uns, aber er ist zumindest fair. "Und natürlich haben wir ein islamistisch- ultranationalistisches Milieu, das dieser Regierung in der Türkei fanatisch die Stange hält. Ein Teil von ihnen schreckt auch vor politischer Gewalt nicht zurück, wie wir an den massiven Übergriffen auf linke kurdische Gruppen in Wien Favoriten durch aufgehetzte junge Türken vor zwei Jahren gesehen haben.

Ich bin daher etwas vorsichtiger, wenn ich zum Beispiel in Favoriten bin. Es kommt immer wieder vor, dass ich erkannt und angesprochen werde. Ein Teil sucht das Gespräch zustimmend, ein anderer Teil möchte respektvoll diskutieren. Und dann gibt es, Gott sei Dank, wenige, die spannungsgeladene böse Blicke auf mich richten. Dennoch war es eine ganz klare und bewusste Entscheidung, die Türkei und das, was passiert, so weit es geht mit der nötigen Distanz zu bewerten und auch Wirkungen hier in Österreich aufzuzeigen. Dass damit einhergehen wird, dass ich nicht mehr in die Türkei einreisen darf, war mir bewusst. Das ist ein Unrecht, aber ich bin darüber nicht entsetzt. Entsetzt bin ich darüber, dass das Land in diesem Zustand ist.

STANDARD: Haben Sie von der österreichischen Politik Hilfe oder Unterstützung in Ihrem Fall bekommen? Was bräuchten Sie?

Güngör: Ich habe schon von verschiedenen Seiten Rückmeldungen bekommen, ob ich etwas brauche. Aber es sollte nicht um mich in erster Linie gehen. Mein Anliegen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, ist weniger meiner individuellen "Leidensgeschichte" geschuldet. Es ist mir eigentlich sogar zuwider, Privates in die politische Öffentlichkeit zu tragen. Doch gerade in einer Zeit, wo viele Politiker, angefangen von Nehammer über Sobotka und Schallenberg bis Ludwig ohne Not und triftigen Grund Erdoğan lobend hofieren, war es mir wichtig, stellvertretend für alle, die unter diesem Unrechtsregime um ein Vielfaches mehr gelitten haben und leiden, meine Stimme zu erheben. Dafür fühle ich mich zu verbunden mit all jenen Zigtausenden, die einen noch höheren, bitteren Preis zahlen mussten.

STANDARD: Was sagen Sie zu diesen Auftritten österreichischer Politiker? Wie schauen Sie vor diesem Hintergrund auf die doch recht rege Kontaktpflege mit Erdoğan? Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat ihn im Juni in Madrid getroffen. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) und der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) reisten im selben Monat zu ihm in die Türkei. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hat Anfang Juli seinen türkischen Amtskollegen getroffen.

Güngör: Würde ich auch nur im entferntesten eine Entwicklung in der Türkei sehen, wo ich sage, es ändert sich etwas zum Guten, dann würde ich es sogar verstehen, dass man die kleinsten positiven Schritte würdigt. Aber das passiert ja nicht, sondern Gegenteiliges ist der Fall. Darum sind solche hofierende Gänge nach Canossa, in diesem Falle Ankara, ohne Grund für mich politisch nicht nachvollziehbar. Sie sind ein Zeichen für die selbstverschuldete, erschlaffte Resilienz demokratisch-freiheitlicher Staaten, die ohne Not einen Kniefall vor Autokraten wie Erdoğan und Putin etc. hinlegen.

Das schmerzt, enttäuscht und schwächt alle, die in diesen Ländern für demokratische, freiheitliche Grundrechte kämpfen und dafür einen bitteren Preis zahlen. Dafür war es mir wichtig, meine Reputation zu nehmen und mit meinem Fall auf diesen Missstand hinzuweisen – vor allem für die Tausenden, die in viel schwierigeren, prekären Lebenslagen sind.

STANDARD: Was sollte die österreichische Politik also konkret machen?

Güngör: Meine konkrete Forderung wäre zum einen, dass man diese beschämende Lobhudelei ohne Grund einstellen und für die demokratischen Grundwerte klarer einstehen sollte. Der zweite Punkt ist, dass über die Zensur und Verfolgung aus der Türkei regimekritische Stimmen in Österreich und in Europa in ihrem zentralen Grundrecht der Meinungsfreiheit vor unseren Augen beraubt werden. Das ist eine massive Verletzung der Grundrechte, die rechtstaatliche Demokratien nicht zulassen dürfen. Hier müsste ein Bundeskanzler oder Bürgermeister im Interesse seiner Bürgerinnen und Bürger aktiv werden.

Etwa 70 Prozent der türkeistämmigen Menschen in Österreich trauen sich nicht, in den sozialen Medien Kritik an der Türkei zu äußern! Da haben wir massive Einschränkungen. Russia Today und ähnliche Plattformen können von einem Tag zum anderen blockiert werden, das würde ich mir auch für diese türkischen Spitzel-Apps wünschen. Dagegen muss man europaweit vorgehen. Das wäre ein wichtiger Schritt nach vorne.

STANDARD: Aus der türkischen Botschaft hieß es zu Ihrem Fall und den zwei Haftbefehlen, dass die Rechtsprechung in der Türkei von unabhängigen und unparteiischen Gerichten ausgeübt werde. Beruhigt Sie das?

Güngör: Diese Standardantwort ist natürlich ein besonderer Hohn für alle, die auch nur im entferntesten die türkischen Verhältnisse kennen. Noch nie war die türkische Rechtsprechung politisch so instrumentalisiert und hing so sehr an den Lippen eines autokratischen Staatspräsidenten wie jetzt. Da von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit zu sprechen, ist ein Hohn, an den sie nicht einmal selber glauben. (Lisa Nimmervoll, 14.8.2022)