Das Atomkraftwerk Saporischschja.

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Kiew (Kyjiw)/Moskau – Die Lage rund um das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja bleibt weiter angespannt: Die Ukraine und Russland machten einander am Wochenende erneut gegenseitig für Angriffe auf Europas größtes Atomkraftwerk verantwortlich. In der nahe zum russisch besetzten AKW gelegenen Stadt Enerhodar seien Artilleriegeschoße eingeschlagen. Das teilten russische wie ukrainische Quellen mit. Beide Seiten machten jeweils die andere für den Beschuss verantwortlich.

Übereinstimmend wurde berichtet, dass ein Zivilist getötet worden sei. "Die Nationalisten der Ukraine haben ein Wohngebiet von Enerhodar mit Raketen beschossen", teilte aber die russische Besatzungsverwaltung der Agentur Tass zufolge mit. Der Bürgermeister der weiterhin ukrainisch kontrollierten Stadt, Dmytro Orlow, wiederum sprach von einer "mörderischen Provokation" der Besatzer. Unabhängige Bestätigungen des Vorfalls gab es nicht.

"Nuklearer Terrorismus"

Das Risiko einer atomaren Katastrophe im größten Kernkraftwerk Europas "wächst jeden Tag", sagte der Bürgermeister am Sonntag in einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur AFP. Die russische Armee beschieße "die Infrastruktur, die den sicheren Betrieb des Kraftwerks sicherstellt", fügte Dmytro Orlow hinzu. "Was da passiert, ist regelrechter nuklearer Terrorismus", kritsierte er. "Das kann jederzeit unvorhergesehen enden." Die Feuerschutzregeln würden immer wieder verletzt und die Lage "heizt sich weiter auf".

"Die Invasoren terrorisieren weiter die Zivilbevölkerung und das Atomkraftwerk", kritisierte der Bürgermeister. Jeden Tag und jede Nacht werde es aus den besetzten Dörfern mit Mörsergranaten beschossen. "Die Lage ist riskant und was am meisten Sorgen erregt, ist dass es keinen Deeskalationsprozess gibt", sagte Orlow gegenüber AFP.

Die internationale Gemeinschaft ist besorgt wegen der Sicherheitslage im größten Kernkraftwerk Europas, das seit März von russischen Truppen besetzt ist. Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) sollen das AKW inspizieren. Die Vereinten Nationen, Russland und die Ukraine können sich aber nicht über die Modalitäten des Besuchs einigen.

Der ukrainische Militärgeheimdienst teilte am Samstagabend mit, Russland "bombardiert das Atomkraftwerk aus unmittelbarer Nähe von der Ortschaft Wodjane am rechten Ufer des Dnipro aus". Der Fluss trennt die von den Russen und die von der Ukraine kontrollierten Gebiete.

Gegenseitige Vorwürfe

Die von Moskau eingesetzte Verwaltung in den russisch kontrollierten Gebieten warf hingegen den ukrainischen Truppen vor, für die Angriffe verantwortlich zu sein. "Enerhodar und das AKW Saporischschja sind erneut unter Beschuss der Anhänger" des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, erklärte Wladimir Rogow, Mitglied der prorussischen Zivil- und Militärverwaltung.

Selenskyj warf Russland in seiner täglichen Videobotschaft erneut "Erpressung" vor. Die "Besatzer" nutzten das AKW, um "auf extrem zynische Weise" Angst zu verbreiten, sagte er am Samstagabend. Die russischen Truppen "verstecken" sich hinter dem AKW, um die ukrainisch kontrollierten Städte Nikopol und Marhanez zu beschießen, fügte er hinzu.

Jeder Tag, an dem das russische Kontingent auf dem Gelände des AKW verbleibe, erhöhe "die nukleare Bedrohung für Europa", warnte Selenskyj. Er forderte "neue Sanktionen" gegen Russland mit dem Ziel, die russische Atomindustrie zu "blockieren".

Die beiden Konfliktparteien hatten sich in der vergangenen Woche wiederholt gegenseitig für Angriffe auf das AKW verantwortlich gemacht. Die Raketenangriffe wecken Befürchtungen einer Katastrophe am größten Atomkraftwerk Europas, der UNO-Sicherheitsrat hielt eine Dringlichkeitssitzung dazu ab.

Reaktor heruntergefahren

Nach den ersten Angriffen am 5. August musste einer der sechs Reaktoren heruntergefahren werden. Die ukrainischen Behörden und westliche Verbündete fordern eine entmilitarisierte Zone rund um das AKW und einen Abzug der russischen Truppen, die das AKW seit März besetzt halten.

Im Ringen um die Sicherheit des Atomkraftwerks sieht der russische Diplomat Michail Uljanow die Vereinten Nationen in der Pflicht. Aufgabe des UNO-Sekretariats sei es, "grünes Licht zu geben für einen Besuch des AKW von Experten und Expertinnen der in Wien ansässigen Internationalen Atomenergie Organisation (IAEA), sagte Uljanow in einem am Sonntag veröffentlichten Interview der russischen staatlichen Nachrichtenagentur Tass.

Die Diplomat vertritt Russland in Wien bei den internationalen Organisationen. Die IAEA könne sich dann selbst um die "Modalitäten der Reise in die Unruheregion" kümmern, sagte Uljanow.

IAEA-Chef will nach Saporischschja

Dem Vernehmen nach hatten die UNO eine Reise von IAEA-Chef Rafael Grossi nicht nur aus Sicherheitsgründen bisher nicht erlaubt, sondern auch weil es Streit gibt um den Reiseweg. Grossi könnte zum Ärger der Ukraine etwa unter russischem Schutz über die von Moskau 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim anreisen. "Wir haben mit der Organisation sehr eng gearbeitet im Mai/Juli und den Besuch vorbereitet. Das UNO-Sekretariat hat ihn im letzten Moment blockiert, ohne die Gründe dafür zu erklären", sagte Uljanow.

Uljanow sagte, dass die ukrainischen Streitkräfte aufhören müssten, das AKW zu beschießen, um der IAEA-Mission die nötigen Sicherheitsgarantien zu geben. "Ein internationales Team darf man nicht unter ständigem Artilleriebeschuss schicken. Das ist das Haupthindernis", sagte er. Bei einem Besuch sollten die Experten dann die Sicherheit vor Ort prüfen und auch die Schuldigen für den Beschuss benennen können.

Den sofortigen Abzug russischer Truppen aus dem besetzten Atomkraftwerk Saporischschja forderten 42 Staaten und die EU am Sonntag in einer Erklärung in Wien. "Die Stationierung von russischen Militärs und Waffen in der Atomanlage ist inakzeptabel", hieß es darin. Russland verletze die Sicherheitsprinzipien, auf die sich alle Mitgliedsländer der IAEA verpflichtet hätten.

Die Kontrolle über das AKW müsse den befugten ukrainischen Behörden übergeben werden. Dann könnten Experten der IAEA ihre Aufsichtspflicht über die Arbeit der Ukrainer wahrnehmen. Russland müsse vollständig aus der Ukraine abziehen und den "durch nichts provozierten oder gerechtfertigten Angriffskrieg" gegen das Nachbarland beenden.

Die Forderung wurde im Namen der EU und aller ihrer Mitgliedsländer – also auch Österreichs – erhoben. Zudem unterzeichneten die USA, Großbritannien, Norwegen, Australien, Japan, Neuseeland und andere Länder. Sie erklärten ihre volle Unterstützung für die IAEA und deren Direktor Rafael Grossi bei dem Bemühen, die Sicherheit der ukrainischen Atomanlagen trotz des russischen Angriffs zu gewährleisten. (red, APA, 14.8.2022)