Inflation und hohe Energiepreise: In der Europäischen Union wächst die Angst vor sozialen Verwerfungen.

Foto: EPA/Olivier Hoslet

Angesichts des Angriffs der Putin-Diktatur zur gewaltsamen Aufteilung der Ukraine und zur Zerstörung der friedlichen und liberalen europäischen Ordnung verweist man zu Recht auf die historische Erfahrung mit der Widerstands- und Anpassungsfähigkeit der Demokratien in den Konfrontationen mit den totalitären Regimen im 20. Jahrhundert. Die Widerstandsfähigkeit eines Staates hängt nicht nur von seiner wirtschaftlichen und militärischen Stärke, sondern auch und vor allem von einer lebendigen Zivilgesellschaft ab.

In der Europäischen Union wächst die Angst vor sozialen Verwerfungen im Winter infolge der Inflation und der hohen Energiepreise. Auch die bereits sich abzeichnende Kriegsmüdigkeit könnte weiter zunehmen. In dieser bedrohlichen Situation hat das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der demokratisch gewählten Regierungen eine entscheidende Bedeutung.

Zerrissenheit der Ampelkoalition

Deshalb könnte die Führungsschwäche der Regierungen in den wichtigsten westlichen Demokratien dramatische Konsequenzen auch für die Machtausübung in der Welt haben. Vor allem ist die Zerrissenheit der von der SPD geführten Ampelkoalition mit Grünen und FDP an der Spitze des mit Abstand stärksten EU-Staates Deutschland besorgniserregend. Laut einer repräsentativen Umfrage vom 10. bis 11. August für den Spiegel betrachten 62 Prozent der Deutschen die Führung der Koalition durch Kanzler Olaf Scholz als negativ, nur 22 Prozent bewerten sie als positiv. 16 Prozent äußern sich unentschieden. Dazu kommt der Schatten der noch immer laufenden Untersuchung über seine mögliche Verwicklung aus der Zeit als Bürgermeister in Hamburg in den heiklen Fall einer Skandalbank.

Auch in Frankreich spürt man seit den letzten Wahlen trotz der neuerlichen Präsidentschaft Emmanuel Macrons die politische Instabilität wegen der verlorenen parlamentarischen Mehrheit seiner Partei. Die Obstruktion durch die extreme Linke und die verstärkte rechtsradikale Le-Pen-Partei zwingt die Regierung zu improvisierten Maßnahmen. Die Rhetorik und Reisediplomatie Macrons können die Konzeptlosigkeit seiner schwachen Regierung nicht verdecken.

Parlamentswahl als Bedrohung

Für die EU und für das westliche Bündnissystem bedeutet aber der wahrscheinliche Ausgang der bevorstehenden Parlamentswahl in Italien am 25. September die größte Bedrohung. Das Bündnis der postfaschistischen Fratelli d’Italia (FdI) mit der rechtspopulistischen Lega und Silvio Berlusconis bürgerlicher Forza Italia führt bei allen Umfragen weiter klar mit um die 46 Prozent. Giorgia Meloni von der FdI, die Viktor Orbáns Ungarn als Modell sieht, hat beste Aussichten, Italiens Regierungschefin zu werden. Mit Matteo Salvini und Silvio Berlusconi würden zwei erprobte fremdenfeindliche Politiker und Putin-Bewunderer auch den Ton angeben.

Man darf auch die Wachablöse in der innerlich gespaltenen regierenden konservativen Partei in London und die trüben Aussichten von US-Präsident Joe Bidens Demokratischer Partei bei den Herbstwahlen zum Kongress und Senat nicht vergessen. All das könnte die weltpolitische Position Wladimir Putins und seines Regimes stärken. (Paul Lendvai, 16.8.2022)