Eine von 5.579 Personen, die am 6. März bei Russland-weiten Protesten gegen den Ukraine-Krieg festgenommen wurde. Solche Demonstrationen können wegen des harten Strafmaßes in Russland nicht mehr stattfinden.

Foto: REUTERS / HANDOUT

Sie platzieren mit blutroter Farbe beschmiertes Kinderspielzeug an öffentlichen Orten und stellen Kreuze mit der Aufschrift "Mariupol 5.000" auf: die Aktivistinnen und Aktivisten der russischen Protestbewegung Feminist Anti-War Resistance. Mit ihren Aktionen wollen sie auf die Opfer und Schauplätze des Kriegsgeschehens aufmerksam machen. Auf einem ihrer Hinweisschilder steht etwa "Wisst ihr, was in Butscha passiert ist?".

In den ersten Wochen des Ukraine-Kriegs wurden in Russland noch tausende Menschen bei Straßenprotesten festgenommen. Solche Demonstrationen seien mittlerweile nicht mehr möglich, man werde sofort verhaftet und riskiere bis zu 30 Tage Gefängnis, erzählt Ella Rossman, russische Aktivistin und Historikerin. Sie lebt derzeit in London. Schon am zweiten Tag nach Kriegsbeginn gründete sie zusammen mit neun weiteren Personen Feminist Anti-War Resistance.

Protest auf Geldscheinen und Preisschildern

Nach eigenen Angaben war die Organisation eine der ersten russischen Protestbewegungen gegen den Ukraine-Krieg. Laufend beteiligen sich weitere Menschen, der Telegram-Kanal der Bewegung hat mittlerweile mehr als 33.000 Mitglieder. Die Online-Zeitung "The Moscow Times" bezeichnete die Organisation Anfang März als "die am schnellsten wachsende Anti-Kriegs-Kampagne".

Die Mitglieder übersetzen und teilen internationale Medienberichte, bringen eine eigene Zeitschrift heraus und verteilen Flyer in Briefkästen. Einige Aktivistinnen schreiben auch Botschaften wie "Nein zum Krieg" oder "Die russische Armee hat mehr als 25 medizinische Einrichtungen in der Ukraine zerstört" auf Geldscheine und Preisschilder in Supermärkten, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Die Aktion erregte auch internationale Medienaufmerksamkeit.

MSNBC

16.400 Verhaftungen

Was sie tun, ist höchst gefährlich. Zu Beginn des Krieges wurden zwei Gesetze verabschiedet, die die Aufklärung über das Kriegsgeschehen in Russland massiv erschweren. Einerseits das Verbot der "Diskreditierung der russischen Armee", auf dessen Grundlage es bisher rund 3.300 und damit die meisten Strafanzeigen gab. Andererseits das Verbot der "Verbreitung von Falschinformation über die russische Armee", auf die bis zu 15 Jahre Haft drohen. "Das ist vergleichbar mit der durchschnittlichen Strafe für Mord in Russland", erklärt Leonid Drabkin von der russischen NGO OWD-Info. Die Abkürzung steht für "Polizeistationen-Info" – die Organisation sammelt Daten zu Bürgerprotesten und leistet Rechtsbeistand im Fall von Anzeigen und Verhaftungen.

Verhaftungen sind für Frauen deshalb besonders gefährlich, da sich laut Rossman die Berichte über sexuelle Übergriffe auf Polizeistationen mittlerweile häufen. Insgesamt wurden seit Kriegsbeginn laut OWD-Info rund 16.400 Personen in Zusammenhang mit kriegskritischen Äußerungen oder Protesten verhaftet. "Die Zahlen sind enorm", kommentiert Drabkin. Was außerdem auffällt: Der Anteil der weiblichen Inhaftierten ist im Vergleich zu Protesten im vergangenen Jahr gestiegen. Ella Rossman ist überzeugt davon, dass Frauen eine maßgebliche Rolle im Protest gegen den Ukraine-Krieg spielen. Die Beispiele sind zahlreich, in St. Petersburg sind besonders Daria Kheikinen und Jelena Ossipowa bekannt für ihren offenen Protest gegen den Krieg.

Pussy Riot und #MeToo

OWD-Info führt den Anstieg der weiblichen Inhaftierten darauf zurück, dass Frauen sich in den letzten Jahren aktiver in politische Proteste eingebracht hätten und diese mittlerweile auch von den russischen Behörden ernster genommen würden. Das beobachtet auch die russische Aktivistin Ewdokija Romanowa, sie engagiert sich seit mittlerweile 14 Jahren zum Thema Feminismus und für die Rechte der LGBTQIA+-Community. Wegen angeblicher "homosexueller Propaganda" wurde sie 2017 in Russland zu einer Geldstrafe verurteilt, nach dem Prozess ist sie nach Wien ausgewandert. Zwei Jahre später wurde eine ihrer Kolleginnen, Julia Zetkowa, aufgrund desselben Gesetzes angezeigt, sie steht immer noch unter Hausarrest.

Vor allem in den 2010er-Jahren habe sich in Bezug auf feministischen Protest eine starke Veränderung aufgetan, erklärt Rossman. Im Gegensatz zu den Jahren davor propagierte die russische Regierung verstärkt eine Rückkehr zum "traditionellen Familienbild", das Verbot von "homosexueller Propaganda" stammt aus dem Jahr 2013. Viele Menschen habe diese Entwicklung verärgert, es erinnere sie an die starke politische Einmischung in das Familienleben während der Sowjet-Zeit, so Rossman. Unter anderem die Auftritte von Pussy Riot und die #MeToo-Bewegung führten jedoch dazu, dass trotz der Repression der feministische Widerstand anstieg.

The Guardian

Gefahr durch Abzug von NGOs

Die Feminist Anti-War Resistance baut laut Rossman auf der Arbeit von insgesamt 45 feministischen Gruppierungen in ganz Russland auf, die sich in den Jahren zuvor gebildet haben. Sie brachten Erfahrung in den Bereichen Aktions- und Informationsarbeit mit, die der Organisation jetzt hilft. Doch nicht nur die aktuellen politischen Umstände erschweren ihre Arbeit. Romanowa hat während ihres Prozesses vor allem internationale Unterstützung durch Organisationen wie Amnesty International erfahren, die ihrem Fall eine breite Medienöffentlichkeit verschafften und finanzielle Unterstützung leisteten.

So etwas wäre heute nicht mehr möglich. Das russische Büro von Amnesty wurde im April behördlich geschlossen. Die restriktive Politik erschwert die Arbeit für viele internationale Organisationen in Russland, insbesondere seit Kriegsbeginn. Für Aktivistinnen bedeutet dies, dass sie der Willkür des russischen Regimes stärker ausgesetzt sind. "Oft wird darüber geredet, wie es die russische Gesellschaft so weit hat kommen lassen. Aber der Westen hat Putins Regime jahrelang mitgetragen", so Romanowa. Sie sieht internationale Unterstützung für aktivistische Gruppen als maßgeblich an – alleine würden sie die nötigen Veränderungen nicht schaffen. (Helene Dallinger, 19.8.2022)