Auch beim Schlatenkees in der Venedigergruppe muss man im Sommer schon weit hinauf, um überhaupt noch Schnee und Eis zu Gesicht zu bekommen.

Foto: Nationalpark Hohe Tauern / Wendl

Im Innergschlöß bei Matrei in Osttirol beginnt auf 1.720 Metern Seehöhe der Gletscherweg aufs Schlatenkees. Bis hierher reichte das Eis beim letzten Gletscherhöchststand im Jahr 1850. Seither ist der Gletscher mehr oder weniger kontinuierlich zurückgegangen, aktuell endet er auf circa 2.400 Metern Seehöhe.

Vom Talboden steigt man rund 500 Meter durch steile Hochstaudenfluren hinauf zum Salzbodensee. Geht man noch ein Stück weiter, hat man endlich die Gletscherzunge im Blick. Sie ist grau vom Schutt. Es fehlt der Schnee, der den Gletscher nährt. In der Messperiode 2020/2021 hat das Schlatenkees 54,5 Meter seiner Länge verloren – ein Rekord.

Kartierung im Hochgebirge

An den Gletschern sind die Auswirkungen des Klimawandels auf das Hochgebirge augenscheinlich, im Pflanzen- und Tierreich sind sie nicht so leicht zu erkennen. Im Jahr 2016 initiierte der mit Fördermitteln des Klimaschutzministeriums und der EU ausgestattete Nationalpark Hohe Tauern daher ein Langzeitmonitoringprogramm in der alpinen Stufe seiner Kernzone, wo direkte menschliche Eingriffe gering sind.

Forschende aus den Bereichen Botanik, Zoologie, Limnologie, Wildtierkunde, Mikroorganismen und Bodenkunde sollen über einen Zeitraum von 100 Jahren nach Standardisierten Methoden zur selben Zeit und am selben Ort Erhebungen durchführen. Die dafür ausgewählten Standorte befinden sich im Kärntner Seebachtal, im Salzburger Ober- und Untersulzbachtal und im Innergschlöß in Osttirol. Um großräumige Trends zu erkennen, werden zwei analoge Standorte in den Südtiroler und den Schweizer Alpen untersucht.

Im Innergschlöß waren die Vegetationsökologin Evelyn Brunner und fünf Kolleginnen und Kollegen von Revital Integrative Naturraumplanung in den vergangenen zwei Jahren unterwegs, um die Biotoptypen im Nationalpark Hohe Tauern, ihre charakteristischen Arten, ihre Prozesse und Gefährdungen zu erfassen.

Digitale Erfassung

An die 200 Tage Kartieren in großteils weglosem Gelände auf 2.000 Metern Seehöhe und mehr – das sei schon rein körperlich eine große Herausforderung gewesen, erzählt ihr Kollege Andreas Nemmert. Zur Erleichterung der Arbeit wurde eine App entwickelt, mit der die Daten digital erfasst und bei Netzverbindung automatisch ans Büro in Nußdorf-Debant geschickt werden konnten.

Die Mühe wurde jedoch belohnt: Bei einer Exkursion Mitte Juli 2022 zeigt Evelyn Brunner einer kleinen Gruppe von Journalistinnen und Journalisten ein Highlight ihrer Entdeckungen: An einer unscheinbaren flachen Wasserstelle hat sie die sehr seltene Zweifarben-Segge Carex bicolor und die Dreiblütige Binse Juncus triglumis entdeckt.

Der Biotoptyp Alpine Schwemm- und Rieselflur tritt normalerweise nur auf sehr kleiner Fläche auf, hier ist er rund 200 Quadratmeter groß. Er entsteht im Gletschervorfeld nach dem Rückzug des Eises und hat ein Ablaufdatum: Wenn sich abgestorbenes Pflanzenmaterial ansammelt, wird daraus irgendwann ein Niedermoor – und die seltenen Gräser werden verschwinden.

Komplexe Veränderungen

Insgesamt wurden im Zuge der Kartierungsarbeiten in den drei Gebieten im Nationalpark Hohe Tauern 3.258 Untersuchungsflächen auf 158 Quadratkilometern erhoben, was neun Prozent der Gesamtfläche des Schutzgebietes entspricht. 80 Prozent konnten direkt erfasst werden, der Rest aufgrund der Unzugänglichkeit der Flächen mit Fernglas und Luftbildauswertung. 145 Biotoptypen wurden kartiert, 92 Prozent der Gesamtfläche fallen unter die Schutzkategorien der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie.

Welche Veränderungen der Pflanzenwelt sind im Zuge des Klimawandels zu erwarten? Der Bergwald wird in höhere Lagen wandern und damit kleinwüchsige Pflanzen verdrängen. Sie können zwar die durch den Gletscherrückgang freiwerdenden Flächen besiedeln, diese werden aber nur etwa ein Zehntel des verlorenen alpinen Landes ausmachen, erklärt der Botaniker Christian Körner, emeritierter Professor der Universität Basel, bei der Exkursion.

Doch die Sache ist komplex, denn Mulden, in denen länger Schnee liegen bleibt, der Eintrag von Stickstoff aus der Luft und die Veränderung der Niederschläge werden ebenfalls Auswirkungen haben. Erste Ergebnisse des Langzeitmonitorings wird es erst in etwa zehn Jahren geben.

Auftauender Permafrost

Springen wir gedanklich vom Innergschlöß nach Westen, über den Großvenediger ins Obersulzbachtal. Dort sind die Auswirkungen des Klimawandels auf das Hochgebirge schon seit 17 Jahren zu sehen. Im August 2005 kam es erstmals zu außergewöhnlichen Muren und Steinschlägen aus dem Sattelkar, die den Versorgungsweg der Almen und Schutzhütten beschädigten. Der Weg wurde danach vorsorglich auf die andere Talseite verlegt. Untersuchungen ergaben, dass die Massenbewegungen aufgrund auftauenden Permafrostes entstanden sein dürften.

Das Sattelkar befindet sich in einer Höhe zwischen 2.100 und 2.800 Metern. Es ist eine vom Gletscher geschaffene große Mulde, in der Sedimente liegen, die durch Eis zusammengehalten werden. Durch die Erwärmung taut der Permafrost im Untergrund, und es regnet häufiger und stärker, anstatt zu schneien, wodurch das Geröll in Bewegung gerät.

Wo einst grüne Almen waren, rutscht nun eine Million Kubikmeter Lockermaterial mit einer Bewegungsrate von teilweise mehr als 50 Metern pro Jahr den Hang hinunter bis in den Obersulzbach. Der führt bei Hochwasser die Steine und Felsbrocken mit sich bis hinaus ins Siedlungsgebiet im Pinzgau.

Klimawandel als Gefahr

Seit dem Jahr 2018 untersucht das Salzburger Forschungsinstitut Georesearch das Sattelkar und seine Nachbarkare mit Luftbildern, Drohnenflügen, Temperatursensoren und Messungen vor Ort, um die thermischen Untergrundbedingungen und die Massenbewegung beurteilen zu können. Auch eine kurzfristige Vorhersage mittels Geophonen wäre möglich, um zum Beispiel den Weg an der Stelle der Rutschung zu sperren, erklärt Ingo Hartmeyer von Georesearch.

Die Monitoringdaten sollen dazu beitragen, die Auswirkungen des Klimawandels auf hochalpine Kare besser zu verstehen und Gefahren abschätzen zu können, die aufgrund der veränderten Umweltbedingungen auf uns zukommen. (Sonja Bettel, 17.8.2022)